Der Duft von Hibiskus
lange wie möglich zu verdrängen und das Leben im Hier und Jetzt voll auszukosten. An Vergnügungen dachte sie dabei nicht. Stattdessen wollte sie lernen. Allerdings andere Dinge als die, die man ihr in der privaten Töchterschule beigebracht hatte – Handarbeiten, Tanz, Moral und Haushaltungskunst. Damit hatte Emma sich lange genug herumgequält! Jetzt wollte sie endlich ihren eigenen Interessen folgen, ihre Wissbegierde befriedigen und ihre Talente zur Entfaltung bringen. Sie wollte ihre Zeit sinnvoll ausfüllen.
Aber wie?
Die Idee reifte so schnell und vollständig in ihr heran, dass Emma sich staunend fragte, wie lange sie wohl schon in ihr geschlummert hatte. Es lag ja auch auf der Hand: Emmas Freude am Zeichnen, ihre Liebe zur Natur, des Vaters Ausflüge in Wald und Wiesen, die hingebungsvolle Arbeit an seinem Herbarium – alles verwob sich zu einem harmonischen Ganzen, und alles lief auf das Eine hinaus: Sie musste bei ihrem Vater in die Lehre gehen!
Natürlich nicht, um später zu arbeiten, schließlich war sie eine Frau. Aber sie würde ihrem Vater helfen können, und dabei würde sie wundervolle, anregende Jahre verbringen, Jahre, von denen sie später im Geiste zehren würde. Eigentlich war es doch ganz einfach, fand sie: Die Beschäftigung mit Heilpflanzen würde ihr die Ehe versüßen, wenn ihr eigener Gatte sie nicht mehr beachten würde. Statt zu leiden wie Frau Röslin, würde Emma sich in ihrer freien Zeit sinnvoll beschäftigen können, und ihre Tätigkeit würde ihr stets vor Augen halten, dass die Liebe nicht alles war.
Diese Vorstellung tröstete sie. Überhaupt erschien Emma ihre Idee logisch, sinnvoll und rundum erfreulich. Es blieb nur eine Schwierigkeit.
Ihr Vater.
Oskars Stimme brachte Emma in die Gegenwart zurück.
Gerade sagte er: »… geschäftlich in Stuttgart weilte, dachte ich mir, Oskar, besuch doch den Apotheker Röslin! War wohl eine Schicksalsentscheidung, denn so bin ich zu dir gekommen, meine Liebe. Und du nach Australien. Was für ein Glück, dass mein Assistent schwer erkrankt war!« Er lachte. »Sonst liefe jetzt ein pickeliger Jüngling neben mir her statt einer schönen Frau.«
Emma zwang sich, nicht mehr an Stuttgart zu denken, und konzentrierte sich wieder auf Oskar. »Ist der junge Mann denn mittlerweile gesundet?«, fragte sie höflich.
»Bei meiner Abreise noch nicht«, erwiderte Oskar. »Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.«
»Er wird doch nicht gestorben sein?«, fragte Emma erschrocken.
»Wer weiß?« Oskar zuckte mit den Schultern und fing wieder an zu pfeifen.
Seine Gleichgültigkeit stieß Emma ab, und sie schwieg. Ohnehin fiel es ihr zunehmend schwer zu reden: Ihr Mund war trocken, der Speichel schmeckte nach Staub.
Längere Zeit gingen sie stumm nebeneinander her. Emma griff immer wieder nach ihrer Kalebasse, um ihrem ausgedörrten Gaumen einen Schluck Wasser zu gönnen. Am liebsten hätte sie sich einige Minuten lang hingesetzt und ausgeruht. Doch den anderen ging es offenbar besser als ihr, denn niemand bat um eine Pause.
Da sie nicht die Einzige sein wollte, die Schwäche zeigte, lenkte sie sich von ihren müden Füßen, dem Schweiß und dem Durst ab, indem sie ihre Aufmerksamkeit bewusst auf ihre Umgebung richtete.
Die Landschaft war von einer seltsamen, unbarmherzigen Schönheit. Die gleißende Sonne tauchte den Wald, der keiner war, in weißes, flirrendes Licht. Die hellen Stämme der Eukalypten reflektierten die Strahlen zusätzlich, und Emma kniff immer wieder geblendet die Augen zusammen. Flüsse, Weiher oder sonstige Wasserstellen gab es keine; Oskar hatte sie schon vorgewarnt, erinnerte sie sich schuldbewusst, dass sie mit dem Wasser in ihrer Kalebasse sparsam sein musste.
Wie ist es den Tieren und Pflanzen nur möglich, in dieser glühenden Trockenheit zu überleben?, fuhr es ihr durch den Kopf.
Trotz der unwirtlichen Bedingungen konnte sie etliche Lebewesen beobachten: kleine grüngelbe Vögel, die mit ohrenbetäubendem Gekreische in Schwärmen über sie hinwegflogen. Unheimliche, urzeitlich aussehende Reptilien, die im trockenen Laub raschelten und die Pferde erschreckten. Aber auch possierliche, mausgroße Tiere, die wohl noch nie einen Menschen gesehen und deshalb kaum Angst vor den Forschern hatten. Das wurde einem von ihnen zum Verhängnis: Oskar bückte sich, schnappte es sich mit raschem Griff und hielt es Emma unter die Nase.
Wenn er gehofft hatte, dass sie schreien würde, musste sie ihn enttäuschen, denn
Weitere Kostenlose Bücher