Der Duft von Orangen (German Edition)
fallen lassen können und die Nadeln ihren Dienst verrichten lassen … und dann dachte ich wieder nach, machte mir Sorgen, dass diese Behandlung nach so vielen Jahren nun das erste Mal nicht anschlagen würde. Dass ich wieder damit würde leben müssen, ein Gehirn zu haben, das mich Dinge sehen, hören, riechen und berühren lassen würde, die es gar nicht gab. Oder schlimmer noch, ein Gehirn, das mir weiße Flecken in meinem Erinnerungsvermögen hinterließ, Augenblicke, in denen alles passiert sein konnte. Ich war nicht sicher, was schlimmer war – Sachen zu erleben, die nie geschehen waren, oder sich nicht an das zu erinnern, was man erlebt hatte.
Die Musik wechselte von dem sanften Plätschern von Wasser und Flöten zu tieferen, beinahe stöhnenden Klängen. Mir war in den Stücken, die sie hier spielten, nie Gesang aufgefallen. Jetzt jedoch konnte ich ihn nicht ignorieren.
Ein Cello. Die sanfte Stimme einer Frau. Gezupfte Saiten.
Und dann, obwohl ich immer besonders darauf hinwies, dass ich während meiner Akupunktursitzungen keine Aromatherapie wollte, roch ich den unverkennbaren Duft von Orangen.
„Nein“, murmelte ich verzweifelt und hielt mich an der Liege fest.
Meine ersten Episoden hatten mich völlig unerwartet überfallen. Im Laufe der Jahre hatte ich aber gelernt, sie zwar kurzfristig,aber noch so rechtzeitig vorherzusagen, dass ich mich darauf einstellen konnte. Mir war es jedoch nie gelungen, eine abzuwehren. Im Gegenteil, es war sogar besser, es gar nicht erst zu versuchen, weil sie dann nur länger und intensiver wurden und ich danach mehr Zeit brauchte, um mich zu erholen. Doch jetzt konnte ich nicht anders. Es war schlimm, ausgerechnet hier in eine Trance zu fallen, mit Nadeln in meinem Schienbein und Schlüsselbein, die eigentlich mein Qi justieren und mich damit in dieser Welt halten sollten. Meine Muskeln verkrampften sich, was genau das Gegenteil von dem war, was sie bei dieser Behandlung eigentlich tun sollten.
Ich konnte nichts unternehmen. Der Duft von Orangen wirbelte um mich herum. Angespannt schloss ich meine Augen und wartete darauf, dass meine Welt sich veränderte oder es um mich herum einfach schwarz wurde. Ich umklammerte den Rand der Liege und spürte, wie die Nadeln in meiner Seite mich piksten.
Dann geschah … nichts.
Ich presste meine Augen fester zusammen. Alle meine Sinne waren in Alarmbereitschaft. Ich hörte das Quietschen von Rädern, das sanfte Klicken der sich öffnenden Tür. Ich öffnete die Augen und drehte meinen Kopf in die Richtung, aus der die Geräusche gekommen waren.
Es war Dr. Gupta, die mich lächelnd begrüßte.
„Es tut mir leid, dass ich ein wenig später als gewohnt komme, um die Nadeln zu entfernen, Emm“, sagte sie. „Wir hatten auf dem Flur einen kleinen Unfall. Es ist bereits jemand da, um sauber zu machen, aber es ist eine ganz schöne Schweinerei. Sei also vorsichtig, wenn du gleich rausgehst.“
Während sie sprach, zupfte sie die Nadeln aus meiner Haut und steckte sie in einen roten Behälter, der mit einem Warnsymbol markiert war. Dann nahm sie meinen Arm und half mir, mich hinzusetzen. Sie reichte mir einen Becher mit Wasser.
„Wie geht es dir?“
Ich wollte ihr nicht von der Episode erzählen. Vielleicht hatte ich sie abgewehrt, vielleicht aber auch nicht. Ich atmete ein. Der Duft von Orangen war verblasst, aber noch nicht ganz verschwunden.Speichel schoss mir in die Mundhöhle, meine Lippen zuckten bei der Erinnerung an den Geschmack der Zitrusfrucht. Ich hatte seit Jahren keine Orangen mehr gegessen, ich ertrug sie einfach nicht, daher war dieses Geschmackserlebnis sehr ungewöhnlich. Meistens roch ich die Orangen nur, aber ich schmeckte sie nicht.
„Ich bin ein wenig müde“, sagte ich.
„Das war zu erwarten. Ist dir schwindelig? Trink noch einen Schluck Wasser.“
Ich tat es, nicht weil mir schwindelig war, sondern um den Orangengeschmack wegzuspülen. Sie nahm mir den Becher ab und warf ihn in den Mülleimer. Dann umfasste sie meinen Ellbogen und half mir, von der Liege zu klettern. Ich wartete eine halbe Minute, da der Fußboden nach der Behandlung manchmal ein wenig zu schwanken schien. Heute tat er es nicht, aber ich blieb trotzdem länger als üblich stehen.
„Emm. Bist du sicher, dass es dir gut geht?“ Dr. Gupta war eine zierliche, dunkelhaarige Frau mit großen, dunklen Augen.
„Ja. Alles gut.“ Um sie zu überzeugen, schenkte ich ihr mein schönstes Lächeln.
Dr. Gupta sah aber alles andere als
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