Der Duft von Orangen (German Edition)
zu meiner Freundin Jen gehe.“
„Oh? Du hast eine Freundin?“
Ich liebte meine Mutter. Wirklich. Aber manchmal hätte ich sie erwürgen können.
„Ja, Mutter. Ich habe eine echte Freundin.“
Sie lachte und klang mit einem Mal viel besser als zu Anfang unseres Gesprächs. Das war doch wenigstens etwas . „Gut. Ich bin froh, dass du deine Zeit mit einer Freundin verbringst, anstatt alleine zu Hause zu sitzen. Ich … ich mache mir nur Sorgen um dich, Honey. Das ist alles.“
„Ich weiß. Und ich weiß, dass du nie damit aufhören wirst.“
Wir verabschiedeten uns, indem wir einander sagten, dass wir uns liebten. Ich hatte Freunde, die ihren Eltern nicht sagten, dass sie sie liebten, die diese Worte nach Beendigung der Grundschule nie mehr in den Mund genommen hatten. Ich war froh, dass ich dem nie entwachsen war und dass meine Mutter darauf bestand. Ich wusste, das lag an ihrer Angst, wenn sie es nicht sagte, hätte sie vielleicht die letzte Chance versäumt, ihrem Kind zu sagen, dass sie es liebte. Mir gefiel das.
Das zu Boden gefallene Buch, Cinema Americana , war irgendwo in der Mitte aufgeschlagen, die Bindung so weit aufgebrochen, dass ich einen unglücklichen Seufzer ausstieß. Ich beugte mich hinunter, um es aufzuheben, und stockte. Das Kapitel, das aufgeschlagen war, trug die Überschrift: „Kunstfilme der Siebziger“, darunter erblickte ich das großformatige, hochglänzende Schwarz-Weiß-Porträt eines wahnsinnig schönen Mannes.
Johnny Dellasandro.
2. KAPITEL
W elchen willst du zuerst anschauen? Wonach steht dir der Sinn?“ Jen öffnete die Tür eines Schranks, der ihre umfangreiche DVD-Sammlung beherbergte. Sie fuhr mit der Fingerspitze über die Plastikhüllen, hielt an einer an und schaute über ihre Schulter zu mir. „Willst du es langsam angehen lassen oder dich gleich kopfüber hineinstürzen?“
Ich hatte Cinema Americana mitgebracht, um es ihr zu zeigen, und nun lag das Buch, aufgeschlagen auf der Seite mit Johnnys schönem Gesicht, auf dem Couchtisch. „Aus welchem Film stammt dieses Foto?“
Jen warf einen Blick darauf. „Zug der Verdammten.“
Ich betrachtete das Foto genauer. „Das Bild ist aus einem Horrorfilm?“
„Ja. Der gehört nicht zu meinen liebsten Filmen von ihm. Er ist nicht sonderlich gruselig. Aber“, fügte sie hinzu, „er tritt darin nackt auf.“
Ich hob fragend die Augenbrauen. „Wirklich?“
„Ja. Allerdings ist er leider nicht von vorne zu sehen.“ Sie grinste und beugte sich vor, um einen Film aus dem Regal zu nehmen. „Aber mal ehrlich, diese Siebzigerjahre-Filme aus dem Ausland sind teilweise wirklich ziemlich brutal. Mit viel Blut und Innereien und so – stört dich das?“
Ich hatte so viel Zeit in Krankenhäusern und Notaufnahmen verbracht, dass mich nichts mehr störte. „Nein.“
„Dann also Zug der Verdammten .“ Jen nahm die DVD aus der Hülle, schob sie in den DVD-Player, stellte den Fernseher auf den richtigen Kanal ein und schnappte sich die Fernbedienung, bevor sie sich neben mir auf die Couch fallen ließ. „Die Qualität ist nicht sonderlich gut, tut mir leid. Ich hab die DVD als Schnäppchen in einem Ein-Dollar-Shop geschossen.“
„Du bist ein ziemlich großer Dellasandro-Fan, oder?“ Ich setzte mich etwas anders hin, damit die Popcornschüssel nicht umfiel, und beugte mich vor, um mir noch einmal das Foto anzusehen.
Ich hatte Jen weder erzählt, dass ich Johnny die Tür gegen den Kopf hatten fallen lassen, noch dass ich eine Stunde damit zugebracht hatte, sein Foto anzusehen und mir jede einzelne Linie und Kurve, jedes Grübchen und jede Rundung einzuprägen. Auf dem Bild hatte er sein Haar, das wesentlich länger war als heute, im Nacken zu einem dicken Pferdeschwanz zusammengebunden. Er sah auf dem Foto jünger aus, was wenig verwunderte, war es doch vor gut dreißig Jahren aufgenommen worden. Aber andererseits wirkte er auch heute nicht besonders alt.
„Er hat sich gut gehalten.“ Jen schaute über meine Schulter, als die ersten leiernden Töne der Filmmusik über die Fernsehlautsprecher ertönten. „Er ist ein klein wenig kräftiger, hat ein paar mehr Fältchen um die Augen. Aber ansonsten sieht er immer noch gut aus. Du solltest ihn mal im Sommer sehen, wenn er nicht diesen langen Mantel anhat.“
Ich lehnte mich auf der Couch zurück und zog meine Knie an mich. „Hast du je mit ihm gesprochen?“
„Oh nein, Süße. Davor habe ich zu große Angst.“ Ich lachte. „Wovor denn genau?“
Mit der
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