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Der Duft von Safran - Holeman, L: Duft von Safran - The Saffron Gate

Der Duft von Safran - Holeman, L: Duft von Safran - The Saffron Gate

Titel: Der Duft von Safran - Holeman, L: Duft von Safran - The Saffron Gate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Holeman
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konnte, und wenn sie einen Fehler gemacht hatte, zog ich die Naht wieder auf. Auf diese Weise schaffte sie mehr Jacketts als sonst.
    Wenn nicht gerade der Phonograph lief, sang meine Mutter bei der Arbeit französische Lieder, die sie als Kind in Quebec gelernt hatte. Ab und zu bat sie mich auch, laut zu lesen. Erst nach einer Weile, als dies zu einem Ritual geworden war, wurde mir klar, dass sie jene Bücher aus der Bibliothek mitbrachte, die sie, hätte sie die Zeit dafür gehabt, selbst gern gelesen hätte. Manche waren auf Französisch. Ich musste mit lauter Stimme lesen, um das rhythmische Rattern der Nähmaschine zu übertönen, und weil es mir mehr Spaß bereitete, gewöhnte ich mir eine akzentuierte Aussprache an, um den jeweiligen Ton einer Romanfigur herauszuarbeiten. Manchmal, wenn ich eine besonders bewegende, aufregende oder witzige Passage las, hielten die Hände meiner Mutter inne, und sie sah mich an, den Kopf zur Seite geneigt, je nach Roman mal mit einem erstaunten, dann wieder besorgten oder aber zufriedenen Gesichtsausdruck.
    » Du hast eine wunderbare Sprecherstimme, Sidonie«, sagte sie eines Tages. » Ausdrucksstark und melodisch. Du hättest …« Sie unterbrach sich jäh.
    » Was hätte ich?«, fragte ich und legte das Buch behutsam in meinen Schoß.
    » Nichts. Lies bitte weiter.«
    Doch das konnte ich nicht mehr. Die Worte Du hättest … hatten mich mit voller Wucht getroffen.
    Du hättest … Erinnerte sie sich an meine Ankündigung – ich war damals ungefähr zehn Jahre alt –, dass ich eine berühmte Schauspielerin werden würde und sie meine Vorstellungen auf einer Broadway-Bühne besuchen kämen? Ich rief mir die Pläne ins Gedächtnis, die ich gemeinsam mit Margaret und Alice Ann vor langer Zeit geschmiedet hatte: dass wir eines Tages nach New York City ziehen und uns eine Wohnung in einem dieser mehrstöckigen Häuser ohne Aufzug teilen würden. Wir würden eine Stelle bei Saks in der 5th Avenue haben, wo wir Lederhandschuhe oder schwere Parfüme an die elegant gekleideten Damen verkauften, die zwischen den weitläufigen Gängen des Kaufhauses herumschlenderten. Margaret fuhr regelmäßig mit ihrer Mutter nach New York, und sie hatte mir von den Broadway-Theatern und den großen Kaufhäusern vorgeschwärmt.
    Aber natürlich würde jetzt keiner dieser Träume wahr werden. Nicht für ein Mädchen, das ans Bett gefesselt war. Selbst wenn dieses Mädchen eines Tages in einem Rollstuhl sitzen würde. Nie würde ich in einem mehrstöckigen Gebäude ohne Aufzug wohnen können. Nie würde ich hinter einer Ladentheke stehen und Handschuhe oder Parfüm verkaufen.
    Was würde aber dann aus mir werden? Was würde ich später einmal tun? Eine leise, kalte Stimme in meinem Kopf verschaffte sich Gehör; sie erinnerte mich an die schwarzen, in enger Schrift gesetzten Worte von Schwester Marie-Gregory, mit denen sie mich als Krüppel bezeichnete.
    Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass sich mein Leben möglicherweise nie mehr außerhalb dieser Liege abspielen würde, jenseits dieser Küche, dieses Hauses und dieses Hinterhofgartens.
    In der folgenden Woche klagte ich gegenüber meiner Mutter über Kopfschmerzen und sagte, dass ich lieber in meinem Zimmer bleiben wolle. Ich ließ sie den Vorhang zuziehen, da mich das Licht blendete, und behauptete, dass ich auch die Musik aus den Wachszylindern nicht ertragen könne, da sie mir schmerzhaft in den Ohren gellte.
    Und was war der wahre Grund meines Unwohlseins? Die Tatsache, dass ich gesehen hatte, wie die Tür zu meiner Zukunft vor meiner Nase zuschlug.
    Mit einem Mal gab ich ihr insgeheim die Schuld, dass sie mir die Augen dafür geöffnet hatte, indem sie diese einfachen zwei Worte sprach: Du hättest … Die kalte, gefühllose Stimme in meinem Kopf redete mir nun ein, dass alles sinnlos sei, also hörte ich mit allem auf: mit dem Malen, unter dem Vorwand, dass ich das Interesse daran verloren hätte. Ich hörte auf, meiner Mutter beim Nähen zu helfen, da die winzigen Stiche mich zu sehr anstrengten. Und auch das Vorlesen ließ ich bleiben, ich sagte, dass mein Hals dabei schmerze.
    Wenn sie zweimal am Tag mein Deckbett zurückschlug, um meine nutzlosen Beine zu massieren und die Beugeübungen zu machen, die ihr die Schwester vom Gesundheitsdienst gezeigt hatte, starrte ich an die Decke.
    Wenn ich sie dann um die metallene Bettpfanne bat, die sich unter meinem Bett befand, und es mir mit aller Kraft und ihrer tatkräftigen Hilfe gelang, meine Beine

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