Der Duft von Safran - Holeman, L: Duft von Safran - The Saffron Gate
mit ihrem nutzlosen Gewicht anzuheben, konnte ich sie nicht dabei ansehen. Und ich stellte mir vor, dass sie dies alles für den Rest ihres Lebens tun müsste.
Irgendwann nahm ich meinen Platz auf der Liege in der Küche wieder ein, nachdem ich die Langeweile in meinem Zimmer nicht mehr aushielt und sie am liebsten hinausgeschrien hätte. Ich sagte, ich fühlte mich wieder gut, und nahm die alte Routine wieder auf – half meiner Mutter beim Nähen, las ihr vor –, denn alles war besser, als allein in meinem Zimmer zu liegen.
Ich weiß nicht, ob meine Eltern bemerkt hatten, dass sich etwas verändert hatte, etwas in mir zerbrochen war. Sie taten, als wäre nichts geschehen.
Wenn mein Vater nach der Arbeit nach Hause kam, räumte meine Mutter die Nähmaschine und die Stapel mit Jacketts und Ärmeln vom Küchentisch, um das Abendessen aufzutischen. Währenddessen blieb ich wie immer auf der Liege und aß von einem Tablett in meinem Schoß. Doch statt Zinnober kleine Bissen von meinem Essen abzugeben oder an der Unterhaltung meiner Eltern teilzunehmen, wie früher immer, beobachtete ich sie schweigend.
Meine Mutter hielt Messer und Gabel verkrampft in ihren Händen mit den geschwollenen, knotigen Fingergelenken. Wie früher unterhielten sie sich über die kleinen Alltagsbegebenheiten, tauschten den örtlichen Klatsch aus, beklagten sich über den derzeitigen Preis von Schweinefleisch oder Tee. Sie sprachen auch über den noch immer andauernden Albtraum des Krieges. Doch wenn sie versuchten, mich in ihre Unterhaltung einzubeziehen, kam von mir nur eine einsilbige Antwort.
Sie redeten so, als sei die Welt dieselbe wie vor der Polioinfektion. Vor meiner Polioinfektion.
Begreift ihr denn nicht?, hätte ich sie am liebsten angeschrien. Wie könnt ihr so tun, als wäre alles beim Alten? Wie könnt ihr einfach so dasitzen und essen, als wäre es ein ganz normaler Tag?
Mein Leben würde nie wieder so sein wie zuvor. Nie würde ich mehr unsere ruhige Straße hinunterlaufen und mir das Haar vom Wind zerzausen lassen. Nie würde ich mehr auf meiner alten Kinderschaukel im Hinterhofgarten sitzen, mich hoch in die Lüfte schwingen und den köstlichen Schwindel spüren, wenn ich die Augen schloss und den Kopf in den Nacken legte. Nie wieder würde ich in einem Paar hochhackiger Schuhe vor dem Spiegel posieren und eine Pirouette drehen. Ich würde nicht mehr zusammen mit meinen Freundinnen Schaufenster betrachten, während wir Pläne für unser zukünftiges Leben schmiedeten. Nie wieder würde ich im Arm eines Jungen tanzen.
Ich würde nie wieder ein normales Leben führen, und doch taten meine Mutter und mein Vater, als wäre ihnen das nicht ebenso klar wie mir. Gewiss, sie liebten mich und wollten mir das Leben so angenehm wie möglich machen. Aber ich hatte niemand anders, auf den ich wütend sein konnte. Mit Gott konnte ich nicht hadern, seine Gunst brauchte ich noch. Also war ich im Stillen wütend auf meine Eltern, wann immer sie lachten, zu mir herübersahen, lächelten. Jedes Mal, wenn meine Mutter mir ein Muster zeigte und mich fragte, ob sie ein neues Kleid für mich nähen solle. Jedes Mal, wenn mein Vater ein von mir gemaltes Bild am Fenster betrachtete, den Kopf schüttelte und sagte, es sei ihm schleierhaft, woher ich mein Talent hätte.
Aber auch das Malen bereitete mir keine Freude mehr. Nunmehr war mein einziges Vergnügen, Zinnober zu streicheln, ihr sanfte Worte zuzuflüstern und sie an die Brust zu drücken wie eine Mutter ihr Baby. Noch so ein Du hättest … Nie würde ich mein eigenes Kind in den Armen wiegen.
Im Laufe dieses ersten Jahres verwandelte ich mich in die neue Sidonie, die all ihre Hoffnungen und Träume begrub. Ich stellte sie mir als blendende, pulsierende Lichter vor, die in einer Holzkiste verschwanden und mit dem Schließen des Deckels erloschen. Der Deckel war schwer und ließ sich nicht mehr bewegen.
DREI
D as zweite Jahr ging vorüber und brachte ganz langsam ein paar Fortschritte mit sich. Irgendwann konnte ich selbstständig aufrecht sitzen, und ich tauschte das Bett gegen den Rollstuhl – ein kleines Stückchen Freiheit. Nach unzähligen Versuchen und Fehlschlägen gelang es mir, mich ohne fremde Hilfe vom Bett in den Rollstuhl zu hieven. Ich musste nicht mehr warten, bis meine Mutter kam und mir die Bettpfanne reichte oder mich wusch; jetzt konnte ich mich im Rollstuhl ins Badezimmer und in die Küche begeben. Ich konnte gemeinsam mit meinen Eltern am Tisch essen. Und wenn
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