Der Duft von Tee
alles herumzieht. Hier in der Küche leuchtet die Uhr der Mikrowelle in einem blassen Lindgrün: 17:38. Pete hat sich an Uhrzeiten im 24-Stunden-Format gewöhnt, da er schon so lange in Kasinos arbeitet. Zwanzig vor sechs. Die Pachtunterlagen liegen in einem dicken Bündel in einem weißen Umschlag auf der Arbeitsplatte. Mein Name ist in Respekt einflößenden schwarzen Buchstaben darauf getippt. Ist es zu früh für einen Drink? Ich gieße mir ein Glas von dem Chardonnay ein, den Pete auf der Arbeitsplatte stehen gelassen hat. Er ist warm, kleine Blasen prickeln in meiner Kehle. Ich schlendere mit dem Glas in der Hand durch die Wohnung, sehe mir jeden Raum genau an. Hier müsste dringend sauber gemacht werden, aber ich habe jetzt keine Lust dazu. Meine Muskeln schmerzen höllisch, selbst meine Knochen tun weh.
Heute sind die Bauarbeiter gekommen, um im Café eine Wand einzureißen, damit man von der Theke aus in die Küche sehen kann. Meine Ohren dröhnen noch immer von dem Echo der Presslufthämmer, die sich durch alten Verputz und Holz arbeiteten. Die Böden sind jetzt mit dickem, grauem Schutt bedeckt, der ständig aufgewirbelt wird, sobald jemand hindurchläuft. Als sie gingen, hatten die hemdlosen Bauarbeiter eine andere Farbe als bei ihrer Ankunft. Der Schweiß verwandelte den mehligen Gipsstaub auf ihrer Haut in klebrige Asche. An Tagen wie diesen wünsche ich, ich würde Chinesisch sprechen. Der Vorarbeiter – der Mann, dessen Nummer mir Paul gegeben hat, als ich ihn angerufen und um Hilfe gebeten habe – spricht perfekt Englisch, aber er ist fast nie da. Kantonesisch wäre am besten, aber auch Mandarin würde helfen. Nur Englisch sprechen zu können kommt mir wie eine Behinderung vor. Ich habe versucht, die Bauarbeiter dazu zu bringen, Ohrstöpsel oder Helme zu tragen, habe hilflos mit den Händen gestikuliert, aber nur verwirrte Blicke und Schulterzucken geerntet. Ich stelle mir vor, dass sie hinter ihren Zigaretten über mich grinsen, wenn ich nicht hinsehe. Ich bin schnell zu der Einsicht gelangt, dass es für uns alle das Beste ist, wenn ich ihnen nicht im Weg stehe. Jetzt sehe ich nur zu und gehe anschließend mit klingenden Ohren in meine leere Wohnung. Heute Abend hat Pete mir eine SMS geschickt, dass er erst auswärts zu Abend isst und dann mit seinen Kumpels zum Karaoke geht, um sich bei falschem Gesang und grünem Tee mit Whisky mit ihnen zu amüsieren. Irgendwie bin ich erleichtert, dass er gar nicht gefragt hat, ob ich ihn begleiten will.
Ich setze mich ins Arbeitszimmer und drehe den Stuhl zum Fenster hin. Die Scheibe ist mit Regentropfen gesprenkelt. Dort, wo einer von uns sich dagegengelehnt hat, um auf die Straße hinunterzusehen, ist ein Schmierfleck zurückgeblieben. Mein Kopf ist noch immer voller Baupläne, Tapeten, Lampenschirme und Serviettenfarben. Bald, zu bald, muss ich bezüglich der Espressomaschine und der Wände eine Entscheidung treffen. Vielleicht muss die billigere Maschine reichen. Die, die ich wirklich haben möchte, ist silbern und wird von einem bronzenen Adler gekrönt wie die Motorhaube eines teuren Autos. Sie sieht herrlich italienisch aus, liegt aber jenseits meiner finanziellen Möglichkeiten. Ich beiße mir auf die Lippen und frage mich, ob Pete nicht doch recht gehabt hat und das Ganze nur eine lächerliche, sinnlose Geldverschwendung ist. Es scheint, dass ein Leben lang gekellnert zu haben und ein Café zu eröffnen zwei grundverschiedene Dinge sind; allein der Gedanke daran erschöpft mich.
Wir haben uns mit dem Auspacken der Umzugskartons Zeit gelassen. Ein Karton steht noch völlig unberührt und nach wie vor mit braunem Klebeband verschlossen neben dem Schreibtisch. Ich schneide das Klebeband auf und öffne ihn. Die Papiere darin befinden sich in völliger Unordnung. Es sind wohl Petes Unterlagen; alte Berichte und Projektpläne und ein Sammelsurium aus langweiligen Firmenpapieren. Doch als ich darin herumwühle, stoßen meine Finger gegen die steifen Kanten eines Fotostapels. Die Bilder sind alt; sie haben noch diese runden Ecken, die Farben sind zu Orange- und Bernsteintönen verblasst, der Fokus ist weich und verschwommen.
Die erste Aufnahme zeigt mich vor unserem Mietshaus in Islington. Ich trage meine Kellnerinnenuniform; der erste Job, den ich je hatte. Und ich sehe verwirrt aus. Es ist nicht schwer, sich Mama hinter der Kamera vorzustellen, stolz und kichernd. Auf dem nächsten Bild bin ich in Frankreich, ein mürrischer Teenager auf einer
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