Der Duft von Tee
Mama zieht erneut an meiner Hand, damit ich mich beeile. Endlich bleibt sie stehen. Sie schluckt und leckt sich die Lippen und zupft Haare von ihrem Mantel, obwohl da überhaupt keine sind. Die Finger, mit denen sie mich festhält, zucken.
»Wo sind wir, Mama?«
Sie sieht mich an, als hätte sie vergessen, dass sie mich an der Hand hält. Als sie in die Hocke geht und mich ansieht, fällt ihr das Haar in die Stirn. Unter ihren Augen sind dunkle Ringe, weil sie so wenig geschlafen hat, doch sie hat versucht, sie zu überschminken.
»Warte eine Minute hier draußen, okay? Das hier ist wirklich wichtig. Mama ist nicht lange weg. Anschließend bekommst du einen Doughnut.«
Sie lächelt und kneift mich in die Wange. Das wird ein schöner Tag. Ich denke an das Knacken der Schokolade, an den süßen Kern aus Teig und an den Zucker auf meinen Lippen. Ich werde von außen nach innen essen, immer im Kreis, bis ich zu dem Loch komme. Bis nur noch dieser kleine Bauchnabel in der Mitte übrig ist.
»Bekomme ich einen Schokoladendoughnut?«
Sie nickt, tätschelt mir den Kopf. »Sicher. Sei brav, ja? Es dauert nicht lange.«
Wir stehen vor einer Bäckerei, warme, süße Düfte strömen nach draußen. Ich schnuppere, es riecht nach Mehl und warmer Butter und geschmolzenem Zucker. Die untere Hälfte der Scheibe ist angestrichen, sodass ich nur ein paar halbe Köpfe und das Licht an der Decke sehe. Minuten vergehen, die sich wie Stunden anfühlen; ich wische den Boden sauber und setze mich. Schotter vom Asphalt bleibt an meiner Strumpfhose hängen, und als ich versuche, ihn abzuzupfen, bleibt der Teer kleben und reißt ein Loch hinein. Ich lege den Finger darauf, sodass ich die Gänsehaut darunter spüre. Mama wird ausflippen.
Jetzt sind Geräusche aus dem Laden zu hören, eine Frau schreit und brüllt und hört nicht wieder auf. Sie klingt wie Mama, und mein Herz bleibt stehen, als wäre es zu Eis erstarrt. Ein Mann mit Schnurrbart kommt heraus, schüttelt langsam den Kopf und zieht seinen Mantel fester um sich. Die Tasche, die er in der Hand hält, riecht nach heißen Weihnachtstörtchen. Im Geschäft muss etwas heruntergefallen sein, da ein Scheppern zu hören ist. Ich verhalte mich so ruhig wie möglich. Kurz darauf kommt Mama heraus. Ihr Gesicht ist grau und verkniffen.
»Komm, Grace, wir gehen.«
Sie holt tief Luft und nimmt meine Hand. Dann sieht sie auf meine staubige Strumpfhose hinunter.
»Was ist mit meinem Doughnut?«, flüstere ich. Es ist dumm von mir, das gerade jetzt zu fragen, aber ich bin so hungrig, dass mir der Magen wehtut.
»Was?«
»Mein Doughnut …?«
Ich schlinge die Arme um mich, als sie mir mit groben, gründlichen Handbewegungen den Staub abklopft.
Ein Mann mit einer weißen Schürze eilt aus dem Geschäft und fängt an, auf Mama einzureden.
»Verdammt, an den Gedanken muss ich mich erst mal gewöhnen.« Seine Wangen sind rot wie Äpfel; er riecht nach geschmolzenem Zucker. »Du kannst doch mit solchen Neuigkeiten nicht einfach so reinschneien.« Er schüttelt den Kopf. »Verdammt, warum bist du nur immer so verrückt, so …« Er verstummt, als er mich sieht. Er studiert eingehend mein Gesicht und macht den Mund auf. Seine Augen sind sanft und so blau wie bemaltes Porzellan. Mir fällt auf, dass seine Hände voller Mehl sind, aber darunter sind sie groß und kräftig mit kurzen, ordentlich geschnittenen Nägeln. »Ist das …« Er starrt mich noch immer mit Augen an, die rund wie Untertassen sind.
Das macht mich nervös, deshalb sehe ich nicht länger in sein Gesicht und bemerke ein Tattoo, das unter seinem Ärmel hervorguckt. Es ist ein kleiner Vogel mit einer rosa Schleife. Ich habe mir schon immer Ballettschuhe mit genau so einer Schleife gewünscht. Meine Füße sind wund und geschwollen von den Stiefeln, und ich würde am liebsten weinen, doch Mama ist so wütend, dass ich es mir verkneife. Dafür frage ich noch ein letztes Mal nach dem Doughnut. Nur für den Fall, dass sie ihn vergessen hat und er jetzt auf der Theke liegt. Mama hasst es, wenn sie etwas liegen lässt, das sie bezahlt hat, das ist Geldverschwendung. Ich stelle mir die einsame Papiertüte vor, die durch das Fett langsam dunkler wird und darauf wartet, dass man sich an sie erinnert. Ich ziehe am Rand ihres hübschen Mantels.
»Der Doughnut, Mama?«
Mama wirft mir einen Blick zu, der besagt, dass ich besser den Mund halte, wenn ich weiß, was gut für mich ist.
»Vergiss den verdammten Doughnut«, zischt sie durch
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