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Der Duft von Tee

Der Duft von Tee

Titel: Der Duft von Tee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Tunnicliffe
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Brücke, wieder zum Posieren gezwungen. Das Wetter ist trostlos, der Himmel schiefergrau. Noch so ein wilder Spontanurlaub. Ich lasse mich in den Lesesessel fallen und blättere in dem Stapel. Ich bin auf jedem einzelnen Bild zu sehen. Mit einem Schokoladenkuchen mit Kerzen, die verträumten Augen weit geöffnet; ich auf einer Picknickdecke, in die Kamera blinzelnd, ich vor den Houses of Parliament. Hier stehe ich dünn und verängstigt in meiner Highschool-Uniform und da, Jahre später, schmollend mit kurz geschnittenen Haaren am Küchentisch. Ich trinke einen großen Schluck Chardonnay und lehne den Kopf gegen den Sessel. Langsam kriecht der Wein in meinen Blutstrom.
    Auf den letzten Fotos sind Mama und ich zusammen zu sehen. Auf einem hat sie eine entsetzliche Frisur. Ihre Haare sind oben kurz und unten lang. Zum Glück hatte sie wunderschönes, glänzendes Haar, das mit fast jedem Schnitt gut aussah. Sie lächelt breit auf diesem Foto, und eine Kleinkindausgabe von mir drückt sich an ihre Beine. Ich bin wohl als Fee verkleidet – ich trage Flügel aus Kleiderbügeln und Alufolie, sehe aber nicht sehr glücklich darüber aus; wahrscheinlich war das nicht das mädchenhafte, zierliche Kostüm, das ich mir gewünscht hatte. Aber Mama – Mama sieht so aus, als hätte sie gerade eigenhändig den Eiffelturm erbaut.
    Mama lächelt nicht auf allen Fotos. Manchmal blickt sie in die Ferne oder scheint durch die Kamera hindurchzusehen. Ihr Gesicht hat diesen versonnenen Ausdruck, der typisch für sie war, als würde sie zwischen dieser und einer anderen Welt schweben. Diese Fotos sehe ich mir immer wieder an, führe sie ganz dicht an die Augen, studiere jede Linie auf ihrer Stirn, ihre Mundwinkel, die Spannung in ihren Schultern. Ich suche in ihrem Gesicht nach etwas, das ich nicht finden kann, einem Hinweis oder einem Zeichen. Als mein Blick unscharf wird, lege ich die Fotos zur Seite und starre aus dem Fenster.
    Es wird dunkel, der Himmel färbt sich mauve. Die Lichter in den umliegenden Wohnungen gehen an, eins nach dem anderen. Mir gegenüber macht eine dunkelhaarige Frau gerade den Abwasch. Ein langer, dicker Zopf hängt über ihrer Schulter. Ihr Kopf ist nach unten auf das Spülbecken gerichtet, sie sieht nicht ein Mal auf, arbeitet sich schnell durch Töpfe und Woks und Schüsseln und Salatbesteck. Der Zopf hängt wie eine Schlange ihren Rücken hinunter und schwingt hin und her, wenn sie sich bewegt. Dann hebt sie den Kopf und beugt sich zum Fenster vor. Ihr Gesicht ist klein und blass. Sie streckt die Hand durch die Gitterstäbe, öffnet die Faust, die wahrscheinlich voller Krümel oder Essensreste war, dann taucht sie sie wieder ins Spülbecken.
    Ich stelle mein leeres Glas auf den Boden und lehne mich zurück. Meine müden Knochen sinken in das weiche Polster, und ich schließe die Augen.
    Ich trage ein Kleid, das mit Elefanten bedruckt ist. Schwanz an Rüssel gehen sie hintereinander her. Ich fahre mit dem Finger am Saum entlang und stelle mir vor, wie sie trompeten und mit den Füßen stampfen. Mama hält meine andere Hand und drückt sie fest. Sie zerrt mich mit sich, meine Füße schleifen über den Boden. Ich sehe erst ihre langen, dann meine kurzen Beine an. Meine Füße stecken in neuen, schwarzen Stiefeln mit glänzenden Knöpfen. Ich liebe diese Stiefel; sie erinnern mich an die Kleine Waise Annie wie sie »It’s the Hard Knock Life« singt und auf das Bett springt. Das ist der beste Teil des ganzen Films. Um ehrlich zu sein drücken sie ein bisschen, diese Stiefel, aber ich sage Mama nichts, weil sie ein Vermögen gekostet haben.
    Mama hat ihre rote Handtasche unter den wie einen Vogelflügel gebogenen Arm geklemmt. Sie räuspert sich, hält inne und räuspert sich erneut. Ich sehe auf, aber sie will gar nichts sagen; ihr Kinn ist vorgereckt, und ihre runden Augen blicken geradeaus. Jetzt sind wir auf einer Hauptstraße, gehen an einem Kiosk vorbei und an einer Post und einer Bank und einem Laden, wo gespendete Sachen für eine Wohlfahrtsorganisation verkauft werden. Ich drehe den Kopf, um die Schaufensterpuppen anzusehen, die nur Mäntel und Hüte tragen. Eine grauhaarige Frau versucht gerade, ihnen Hosen und Röcke anzuziehen. Ich kichere die blassen Puppen an, deren untere Hälften nackt sind. Sie sind dort ganz glatt und sehen gar nicht wie Männer und Frauen aus, und sie haben starrende, aufgemalte Augen. Die grauhaarige Dame bemerkt mein Grinsen und wirft mir einen missbilligenden Blick zu.

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