Der Duft
des Zoos alle Mühe gegeben, den Eindruck natürlicher Lebensräume zu erwecken, aber die allgegenwärtigen
Zäune und Glasscheiben ließen den Betrachter niemals vergessen, dass die Tiere hier in Gefangenschaft lebten.
Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als sie das Affenhaus erreichten. Die Schimpansen machten einen durchaus lebhaften,
vergnügten Eindruck, und doch taten sie Marie leid. Als Kind hatte sie oft vor den Käfigen gestanden und sich daran erfreut,
wie die Tiere mit halsbrecherischer Geschwindigkeit über Äste und Kletterstangen tobten. Heute erschienen ihr die hektischen
Bewegungen wie vereitelte Fluchtversuche.
|55| Neben den Schimpansen gab es eine Gruppe Gorillas. Den Sommer über konnten sie ein recht großzügiges Freigehege nutzen, doch
jetzt, im Oktober, waren die Tiere in die engen Innenräume gesperrt. Ein mächtiges Tier mit silbergrauem Rücken war ganz offensichtlich
der Anführer. Ein halbes Dutzend etwas kleinerer Artgenossen umlagerte ihn. Einer von ihnen, offensichtlich ein Weibchen,
hielt ein Gorillababy auf dem Arm. Sie streichelte es sanft, während das Kleine mit ihren langen, schwarzen Körperhaaren spielte.
Es war verblüffend, wie menschlich ihre Fürsorge wirkte.
Die Gorillamutter drehte den Kopf und sah Marie durch die dicke Glasscheibe mit tiefschwarzen Augen an, in denen so etwas
wie Stolz zu liegen schien. Marie spürte ein seltsames Gefühl in ihrer Brust. Sie musste an Arne und seinen Wunsch nach einer
Familie denken, und für einen Moment bereute sie es beinahe, sich für eine Karriere und gegen Kinder entschieden zu haben.
Doch sie verdrängte den Gedanken schnell. Mit Einunddreißig war sie immer noch jung genug, um diese Entscheidung später revidieren
zu können. Zumindest die Hürde der Partnerwahl bei Copeland wollte sie noch nehmen, dann würde sie weitersehen.
Wenn dich dann noch jemand haben will, flüsterte eine kleine, leise Stimme irgendwo hinten in ihrem Kopf.
Sie verdrängte den Gedanken und konzentrierte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Gorillababy. Der Kleine würde die Heimat
seiner Eltern niemals kennenlernen. Ein trauriger Gedanke, dass seine Chance, eines natürlichen Todes zu sterben, hier in
Gefangenschaft größer war als in den wenigen Gebieten, in denen Gorillas noch in Freiheit lebten.
Ihr Vater schien ihre Gedanken zu erahnen. »Bedauernswerte Geschöpfe«, sagte er. »Wenn du mal Kinder hast und |56| sie in deinem jetzigen Alter sind, wird es wahrscheinlich keine freilebenden Gorillas mehr geben.«
Marie blickte auf das Gedränge vor der Glasscheibe. »Vielleicht ist das der Sinn von Zoos: den Menschen zu zeigen, was für
großartige Geschöpfe es auf dieser Welt gibt, damit wir nicht ganz vergessen, was uns verloren geht.«
»Oder was wir schon verloren haben«, sagte Irene.
Sie setzten den Rundgang nachdenklich und meist schweigsam fort. Am Ausgang verabschiedete sich Marie von Irene und ihrem
Vater und bedankte sich noch einmal für den schönen Nachmittag.
Als sie in ihr Apartment zurückkehrte, fühlte sie sich ein wenig deprimiert, aber auch gestärkt. Wenigstens hatte ihr der
Tag heute gezeigt, dass ihre eigenen Probleme vergleichsweise unbedeutend waren. Es gab Wichtigeres auf der Welt, als Partnerin
bei Copeland & Company zu werden.
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|57| 5.
»Hallo Frau Escher, schön, Sie wiederzusehen!« Scorpa kam mit breitem Lächeln und ausgestreckter Hand auf Marie zu, die verdutzt
in der Tür stehen geblieben war. Mit einem so freundlichen Empfang hatte sie nicht gerechnet. Sein Händedruck war angenehm
fest. Er führte sie zu dem kleinen Konferenztisch, an dem sie vor wenigen Tagen gesessen hatten.
»Dr. Scorpa, ich … es tut mir leid, dass unser Gespräch am Donnerstag …«, begann Marie, während sie sich setzte.
Er winkte ab. »Ich bin es, der sich entschuldigen sollte. Ich war nicht sehr nett zu Ihnen.« Er lächelte. »Wir hatten da letzte
Woche einen kleinen experimentellen Rückschlag, und ich war einfach, wie sagt man heute, nicht gut drauf. Ich bin Spanier,
wissen Sie, und habe eben manchmal etwas zu viel Temperament. Ich habe mich unangemessen verhalten.«
»Nein, nein, wir waren es, die Ihnen gegenüber nicht den nötigen Respekt gezeigt haben«, entgegnete Marie.
Scorpa grinste. »Einigen wir uns einfach darauf, dass wir einen schlechten Start hatten. Jetzt sind Sie jedenfalls hier, und
wir müssen sehen, dass wir das Beste aus Ihrem Auftrag machen,
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