Der Duft
war nichts. Sie hatte nichts gehört. Höchstens
ein Geräusch von der alten Frau Hettwig in der Wohnung unter ihr. Es gab keinen Grund, Angst zu haben. Was immer es war, das
sie beunruhigte, es existierte nur in ihrer Fantasie.
Der Drang nachzusehen war übermächtig. Aufzustehen, alle Türen und Schränke zu öffnen und ganz sicher zu gehen, dass dort
niemand auf sie lauerte. Doch sie durfte dem Drängen nicht nachgeben, die Schleusen nicht öffnen.
Sie schloss die Augen, um die Tränen zurückzuhalten. Ihr wurde plötzlich bewusst, wie sehr ihr Arne fehlte. In seiner Gegenwart
hatte sie sich sicher gefühlt. Sie hatte ihn mehr gebraucht, als sie sich eingestanden hatte.
Eben, schalt sie sich selbst. Du hast ihn nur benutzt, um deine idiotische irrationale Angst zu unterdrücken. Das ist keine
Basis für eine Beziehung. Was du brauchst, ist nicht Arne. Was du brauchst, ist ein Psychiater.
|50| Doch die Ärzte hatten ihr schon als Kind nicht helfen können. Genauso wenig wie ihrer Mutter.
Mit zitternden Händen griff sie nach ihrem Glas Cola, nahm einen Schluck. Sie dachte sich eine achtstellige Zahl aus und zerlegte
sie im Kopf in ihre Primfaktoren. Allmählich verlangsamte sich ihr Puls.
Sie versuchte, sich wieder mit den Unterlagen zu beschäftigen, doch sie konnte sich nicht konzentrieren. Schließlich gab sie
auf, schminkte sich ab und legte sich in das viel zu große Bett. Sie lag lange wach, bis das rhythmische Getrommel des Dauerregens
sie schließlich in den Schlaf lullte.
Nach einem leichten Frühstück am nächsten Morgen rief sie ihren Vater an, der mit seiner zweiten Frau in einer Villa am Wannsee
wohnte. Sie hatte Glück: Er war gerade nicht auf Konzertreise.
»Hallo Papa.«
»Hallo, Kleines! Ist schon eine Weile her, dass du angerufen hast!« Es lag kein Vorwurf in seiner Stimme, nur Neugier.
»Ich hatte ein bisschen Stress in letzter Zeit.«
»Hast du Probleme? Kann ich helfen?«
»Nein, nein, ich hab alles im Griff.«
Er kannte sie zu gut. »Du klingst nicht so. Warum kommst du nicht mit Arne heute Nachmittag mal vorbei, und wir reden über
alles?«
»Ich bin nicht mehr mit Arne zusammen.«
»Das ist es also!«
»Nein, das ist es nicht. Eigentlich ist es gar nichts, jedenfalls nichts, bei dem du mir helfen kannst. Aber ich komme gern
vorbei. Passt dir drei Uhr?«
»Perfekt. Ich freue mich auf dich. Bis nachher!«
|51| Maries Vater lächelte breit, als er seiner Tochter die Tür öffnete. Wie immer trug er dunkle Kleidung, die einen starken Kontrast
zu seiner schlohweißen Mähne bildete. Seine langen Arme umfingen sie, als wolle er sie nicht mehr loslassen.
Auch Irene lächelte und umarmte Marie. Sie war gut einen Kopf kleiner als ihr Mann und hatte im Gegensatz zu ihm eine eher
rundliche Figur, was jedoch ihrer Schönheit keinen Abbruch tat. Mit ihren fast fünfzig Jahren war sie immer noch eine stattliche
Erscheinung, und ihre Stimme war noch fast genau so kräftig und melodisch wie zu den Zeiten, als sie umjubelt auf den Bühnen
der Welt gestanden hatte.
»Wie geht es dir?«, fragte ihr Vater. »Siehst ein bisschen blass aus um die Nase!« Dieser Spruch war ein altes Ritual zwischen
ihnen: Ihr Vater wusste so gut wie sie, dass ihr blasser Hauttyp angeboren war und nichts mit mangelnder Frischluft zu tun
hatte, aber er zog sie immer noch gern damit auf.
Sie grinste. Es war schön, so herzlich empfangen zu werden. Sie ließ sich von Irene in den Wintergarten führen, wo eine riesige
Platte mit erlesenen Torten und Kuchenstücken auf sie wartete. Die Menge hätte bequem gereicht, um das gesamte Orchester ihres
Vaters zu versorgen. Es war seine Art, ihr zu zeigen, wie sehr er sich über ihren Besuch freute.
Der Duft frisch gebrühten Kaffees gab Marie das Gefühl, zu Hause zu sein, auch wenn ihr letzter Besuch schon ein paar Monate
zurücklag. Begeistert nahm sie sich ein großes Stück Fruchttorte und lud einen ordentlichen Schlag Sahne darauf. Jemand, der
sie nicht näher kannte, hätte bei ihrer Erscheinung kaum vermutet, dass sie Süßes liebte. Aber sie hatte sich eben gut im
Griff und konnte genießen, ohne zu übertreiben. Hin und wieder eine kalkulierte |52| Sünde machte das Leben erst lebenswert und war ohnehin viel sinnvoller als das ewige Auf und Ab zwischen maßlosen Fressorgien
und qualvoller Diät, das so viele ihrer Geschlechtsgenossinnen durchlitten. Alles, was man dazu brauchte, war ein bisschen
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