Der Duft
Selbstdisziplin.
Die Torte schmeckte herrlich, ebenso wie der Kaffee, den Irene mit der Cafetière gemacht hatte. Die Anspannung der letzten
Tage fiel allmählich von Marie ab. Sie erzählte, dass sie kurz vor der Partnerwahl stand und alles vom Erfolg des jüngsten
Projektes bei Olfana abhing.
»So ein Affenheini!«, rief ihr Vater, als sie ihm von Ricos Verhalten erzählte. Irene brachte schnell die Kaffeekanne in Sicherheit,
bevor er sie mit seinen ausladenden Gesten umwerfen konnte. Als Dirigent war er es gewohnt, mit den Armen zu »sprechen«. Er
konnte sie mit äußerster Präzision bewegen, aber wenn er erregt war, neigte er zu heftigen, unkontrollierten Schwüngen.
Marie seufzte. »Mach dir keine Gedanken. Mit dem werde ich schon fertig.«
Ihr Vater nickte. »Ja, das wirst du bestimmt. Du warst schon immer enorm zäh und hast dich nicht unterkriegen lassen.«
Sie schwiegen beide einen Moment, in Erinnerungen versunken. Auch wenn sie sich eine Weile nicht gesehen hatten, waren sie
sich immer noch so nah, wie es nur zwei Menschen sein können, die gemeinsam großes Leid ertragen haben. Seine Worte taten
gut, und Marie spürte, wie der unbeugsame Optimismus, der ihren Vater antrieb, auf sie übergriff. Seine Impulsivität und Kreativität
hatte sie zwar nicht geerbt, dafür aber seine Begabung für Harmonie und Rhythmus und seinen analytischen Verstand. Musik ist
Mathematik, und Mathematik ist Musik, sagte er immer. Im Grunde sind es nur zwei verschiedene Ausdrucksformen desselben Prinzips.
|53| Marie hatte natürlich eine erstklassige musikalische Ausbildung genossen und im Alter von vierzehn Jahren einen Jugend-Musikwettbewerb
in der Kategorie Klavier gewonnen. Doch sie spielte nur noch selten auf dem Steinway, den ihr Vater ihr zum achtzehnten Geburtstag
geschenkt hatte. Der logische Aufbau der Kompositionen hatte sie stets noch mehr fasziniert als ihr Klang.
Nach einem exzellenten Abitur hatte sie begonnen, Mathematik zu studieren, war jedoch nach vier Semestern auf Anraten ihres
Vaters auf Betriebswirtschaft umgeschwenkt. »Von der Theorie kann niemand leben«, hatte er gesagt, und sie hatte es eingesehen.
Das BWL-Studium war qualvoll langweilig gewesen. Die Vorlesungen über lineare Optimierung, statistische Verfahren oder Spieltheorie,
die ihren Kommilitonen den Schweiß auf die Stirn trieben, waren ihr trivial vorgekommen. Doch die Verbindung zwischen der
reinen Schönheit mathematischer Modelle und ihrer Anwendung in der Praxis, die das Betriebswirtschaftsstudium durchzog, hatte
sich als interessant und hilfreich erwiesen. In ihrem Beruf als Unternehmensberaterin konnte sie diese Verbindung nutzbringend
anwenden.
»Wollen wir ein wenig spazieren gehen?«, fragte ihr Vater, als Marie das zweite Stück Obsttorte verputzt hatte.
Sie nickte. Etwas Bewegung würde ihr nach der Schlemmerei gut tun. Ein Besuch im Fitnesscenter am späteren Abend würde ein
Übriges dazu beitragen, die überschüssigen Kalorien wieder loszuwerden.
»Was haltet ihr davon, mal wieder in den Zoo zu gehen?«, schlug Irene vor.
»Hast du Lust?«, fragte ihr Vater.
Marie war seit Ewigkeiten nicht mehr dort gewesen. Als Kind hatte sie Zoobesuche geliebt. Sie hatte sich immer vorgestellt,
wie es wäre, in die fernen Länder zu reisen, in denen Krokodile, Leoparden und Kängurus lebten, und |54| den Tieren dort in ihrem natürlichen Lebensraum zu begegnen – für sie damals ein verlockender, aber auch irgendwie unheimlicher
Gedanke. Bei der Erinnerung musste sie jetzt lächeln. »Okay, warum nicht?«
Am Samstagnachmittag war der Zoo natürlich nicht eben leer, zumal die Sonne immer wieder die Wolkendecke durchbrach. Vor dem
Eisbärgehege hatte sich eine riesige Menschenmenge versammelt, um ein Jungtier zu bewundern, dessen Bild in der letzten Zeit
die Titelseiten nicht nur der Boulevardmedien geschmückt hatte und das so etwas wie das Maskottchen der Stadt geworden war.
Vielleicht lag auch ein wenig Sentimentalität in dem Interesse der Menschen angesichts der immer häufigeren Meldungen über
die globale Erwärmung, das Abschmelzen der Polkappen und das damit verbundene Verschwinden der letzten Eisbären. Marie versuchte
erst gar nicht, zum Rand des Geheges vorzudringen, um einen Blick auf das Objekt der Neugier zu werfen.
Die Käfige und Gehege erschienen ihr kleiner, als sie sie in Erinnerung hatte – kleiner und irgendwie trauriger. Zwar hatten
sich die Gestalter
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