Der Duke, der mich verführte
vollbracht, seine verschlossene Seele zu berühren. Wer wüsste besser als er, dass jeder Blick von ihr, jedes Lächeln und jedes Wort stets nur auf eines abzielten: ihn besser zu verstehen. Und heute Abend wollte er sich ihr offenbaren – solange der Mut ihn nicht verließ.
Radcliff beugte sich vor und flüsterte: „Wir sehen uns am Brunnen.“
Ohne eine Erwiderung abzuwarten, verschwand er in der Menge. Er wollte nur hoffen, dass es die richtige Entscheidung war, ihr die wahre Geschichte zu erzählen, die sich hinter seiner Narbe verbarg.
Wie Justine mit einer gewissen Erleichterung feststellte, befand sich der aus Italien importierte Springbrunnen nicht weit von den Festlichkeiten entfernt. Eigentlich nur wenige Schritte vom Haus, um ganz genau zu sein. Der Lichtschein aus den Fenstern reichte bis in den vorderen Teil des Gartens. Zudem schien der Mond vom wolkenlosen Himmel.
Welche Absichten Radcliff auch immer verfolgen mochte, amouröser Natur konnten sie kaum sein, es sei denn, er wollte für einen handfesten Skandal sorgen. Was andererseits für sie beide ja nichts Neues gewesen wäre.
Kühle Nachtluft strich über ihre bloßen Schultern, raschelte in ihren Röcken und ließ sie frösteln. Das Wasser des Brunnens schoss in die Höhe, plätscherte in stetem Rhythmus herab und schwappte hin und wieder über den Rand des Beckens. Fast machte es den Eindruck, als tanzte es zum Takt der Musik, die aus dem Haus nach draußen drang.
Justine rieb sich die Arme, als der Wind leicht auffrischte.
„Ist dir kalt?“, fragte eine tiefe, vertraute Stimme an ihrem Ohr.
Ihr Puls hämmerte, und auf einmal war ihr wieder ganz warm, als sie gewahr wurde, wie dicht Bradford hinter ihr stand. Die letzten zwei Wochen waren wunderbar gewesen. Seit jenem Abend in der Oper meinte sie, in Bradford wieder den Mann zu erkennen, nach dem sie einst geschmachtet hatte. Sie verbrachten viel Zeit miteinander und redeten über alles Mögliche. Nur nicht über das, was sie am meisten interessiert hätte: wie er zu seiner Narbe gekommen war. „Mich fröstelt tatsächlich ein wenig“, sagte sie leise.
„Hier, nimm das.“ Galant legte er ihr seinen Frack um die Schultern. Ein Hauch von Sandelholz und Zigarren umfing sie. „Besser?“, raunte er hinter ihr.
Sie schmolz dahin und erschauerte gleich wieder. „Viel besser. Danke.“
Kurz ließ er seine Hände auf ihren Schultern ruhen, dann ließ er sie sinken und trat hinter ihr hervor. Sein weißes Hemd unter der bestickten Weste schimmerte hell im Mondschein.
„Ganz schön kühl für einen Sommerabend“, bemerkte er und sah sich um. Als ob er nichts anderes im Sinn hätte als das Wetter.
Justine musste sich ein Lächeln verkneifen. Wie süß. Er gab sich wirklich alle Mühe, Konversation zu machen. „Ja, allerdings.“
Er holte tief Luft, atmete ebenso tief wieder aus. „Angenehme Luft. Sehr erfrischend.“
Nun konnte sie kaum noch ernst bleiben. „Für Londoner Verhältnisse schon.“
Er nickte wissend, seufzte fast unmerklich und senkte den Blick auf seine Hände. Schweigend zog er sich die Handschuhe aus, Finger für Finger.
Erst verschwand der rechte Handschuh, dann der linke, enthüllten seine großen, kräftigen Hände, nach deren Berührung sich Justine so sehnte. Er steckte sich die Handschuhe in die Hosentasche und räusperte sich.
Sie schmiegte sich in seinen Rock und konnte kaum den Blick von seinen Händen nehmen. Hände, die seit jenem Abend in der Oper kein einziges Mal mehr auf Abwege geraten waren. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie sich fragte, ob es heute wohl mit dem galanten Gebaren ein Ende hätte, das ihr dieser Tage so viel Freude bereitet hatte – ihr langsam aber auch genug war.
Er betrachtete sie nachdenklich. „Es hat eine Weile gedauert, aber jetzt bin ich bereit dir zu erzählen, was an dem Abend vorgefallen ist, als mein Gesicht verunstaltet wurde. Möchtest du es noch hören?“
Justine spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg und ihr Atem rascher ging. Damit hatte sie nun gar nicht gerechnet. Das war viel mehr, als sie erwartet hatte.
Sie sah sich um, warf einen Blick zum Haus und war etwas überrascht, dass er diesen Moment gewählt hatte, da sie sich praktisch in aller Öffentlichkeit befanden. „Ja, natürlich möchte ich es hören. Aber vielleicht magst du es mir lieber erzählen, wenn wir ganz unter uns sind?“
„Nein, so ist es mir lieber. Hier kannst du einfach gehen, wenn du genug gehört hast.“
Justine
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