Der Duke, der mich verführte
erhob er sich. „Justine!“, brüllte er und stürmte zur Tür.
Er trat hinaus und sah sich um.
Justine, die schon am Ende des Korridors angelangt war, blieb stehen und drehte sich langsam um. In der gespannten Stille zwischen ihnen war nur das leise Rascheln ihrer Röcke zu hören. Hinter ihr fiel helles Mittagslicht durch die Fenster, erreichte jedoch nicht ihr Gesicht, sodass er ihre Augen kaum ausmachen konnte.
Er wusste selbst nicht, warum, aber er musste in diese wunderschönen Augen blicken. Vielleicht nur, um sich zu vergewissern, dass sie für gut befand, was er zu tun gedachte.
Er hielt das Buch hoch und ging auf sie zu. „Ich werde es lesen, Justine. So oft, bis ich die Lektion gelernt habe, die du mich lehren willst.“
Sie rührte sich nicht. Auch schien sie wenig geneigt zu sein, etwas zu erwidern.
Schritt für Schritt kam er näher, und dann, endlich, konnte er ihre Augen sehen. Die zu seiner größten Verwunderung geschlossen waren. Als wollte sie sich vor ihm verstecken.
Das musste man sich mal vorstellen! Da schwang sie so mutige Reden, und dann das. Ihre harte Schale zeigte durchaus Risse. So wie seine.
Er blieb vor ihr stehen. Ein Hauch von Puder und Orangenblüten, den seine Zigarre zuvor überdeckt haben musste, umfing ihn. Sofort hatte er das Bedürfnis, sie auf eine Weise in die Arme zu schließen, die mehr von Freundschaft und gegenseitigem Verständnis sprach als von Leidenschaft.
In diesem Augenblick ging ihm auf, dass es niemals Lust gewesen war, die ihn getrieben hatte. Oder nicht nur. Was er gesucht hatte, war eine tiefe, innige Verbundenheit. Und nun war er fündig geworden – mit Justine. Er wünschte, sie würde lächeln. Er wünschte, sie würde etwas sagen. Er brauchte ihr Lächeln, ihre Worte. Nicht ein einziges Mal in seinen dreiunddreißig Jahren hatte er sich so sehr nach etwas gesehnt, nicht ein einziges Mal hatte er die Neigung verspürt, zu einer Frau eine solche, auf echtem Verständnis und inniger Freundschaft gründende Beziehung zu haben.
Und schon bekam er es ganz gehörig mit der Angst zu tun. Denn bislang hatte er sich immer nur auf sich selbst verlassen. Wobei jedoch nur allzu offensichtlich geworden war, dass er sich, was sein eigenes Glück anbetraf, kein allzu redlicher Partner war.
Mit zittriger Hand ließ er das Büchlein in seine Westentasche gleiten und versuchte zu durchschauen, was gerade Wunderliches mit ihm geschah. Er räusperte sich. „Ich bin hinsichtlich Miss Thurlow zu einer Entscheidung gelangt.“
Flatternd öffneten sich ihre Lider, und schon sah er sich dem betörenden Blick ihrer wunderbaren braunen Augen ausgesetzt. „Und die wäre?“, flüsterte sie.
Justine war es sichtlich eine Herzensangelegenheit, ihm und Matilda Thurlow zu helfen. Und dafür bewunderte er sie nur noch mehr. Denn sie scherte sich einen Teufel darum, was man in London reden würde, und tat einfach das, von dem auch er im Grunde seines Herzens wusste, dass es das einzig Richtige war.
Obwohl er überhaupt gar nichts zuzustimmen brauchte – denn immerhin war er ein Duke, verdammt –, wusste er doch, dass seine Zustimmung vermutlich seine Ehe retten und ihn vor ihr Gnade finden lassen würde. Und das war alles, worauf es ihm ankam.
Er verschränkte die Hände auf dem Rücken, sagte sich, dass auch Waterloo nicht in einer Nacht gewonnen worden war, und verkündete förmlich: „Ich habe beschlossen, Miss Thurlow bis zur Geburt ihres Kindes in diesem Haus zu beherbergen. Danach werden wir uns Gedanken über eine andere, passendere Lösung für die beiden machen. Vorzugsweise führt ihr Weg sie ins Ausland. Weit fort von Carlton.“
Zu seiner Linken entrang sich ein ersticktes Schluchzen. Radcliff hob die Brauen und wandte sich zu Matilda Thurlow um, die noch immer sichtlich aufgelöst an der Tür des Salons stand und sich den schwangeren Bauch hielt.
Sie lächelte unter Tränen. Ihr Gesicht war grün und blau und verquollen, ihre Lippe noch immer blutverkrustet, doch ihre blauen Augen strahlten. „Euer Gnaden, haben Sie vielen Dank. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen Ihre unendliche Güte vergelten soll.“
Er räusperte sich. „Es ist mir eine Freude, behilflich sein zu können. Doch wenn die Damen mich nun bitte entschuldigen wollten, ich habe noch eine dringende Angelegenheit zu erledigen.“ Damit nickte er Justine kurz zu, ging an ihr vorbei und forschen Schrittes bis ganz ans Ende des Korridors, bog um die Ecke und blieb erst stehen, als er sich
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