Der Duke, der mich verführte
außer Sichtweite wusste.
Wie benommen stand er da und fragte sich, wie sein Leben jemals so schwierig hatte werden können.
Hinter ihm waren feste, stetige Schritte zu vernehmen, und schon tauchten die blank polierten Stiefel und die weiten Hosenbeine seines Butlers genau an der Stelle auf, auf die er gedankenverloren starrte. „Euer Gnaden?“ Eine schwere, behandschuhte Hand senkte sich auf seine Schulter. „Benötigen Sie meine Hilfe?“
Radcliff blickte auf. „Allerdings. Bringen Sie mir eine Zigarre, einen Aschenbecher und eine brennende Kerze. Und wenn Sie gerade dabei sind, bringen Sie gleich noch eine Karaffe Brandy mit. Glas brauche ich keins.“
Jefferson zögerte kurz, dann setzte er sich eilfertig in Bewegung. Seine schnellen Schritte hallten auf dem Marmorboden wider.
Radcliff atmete tief durch, dann zog er die kleine Benimmfibel aus seiner Westentasche und betrachtete die goldgeprägten Lettern, die ihn zu verspotten schienen: Wie man einen Skandal vermeidet. Schweren Herzens schlug er das Büchlein auf, wählte achtlos eine Seite.
Er staunte nicht schlecht, als er Folgendes las:
Es bedarf großen Geschicks und unendlicher Geduld, will man eine richtige Dame werden – Geschick und Geduld, wohlgemerkt, über die nicht jede Frau verfügt. Wiewohl Sie genau zu wissen glauben, was Ihr Vater, Ihre Mutter und die Gesellschaft von Ihnen erwarten, kann es ratsam sein, all das gründlich zu vergessen. Denn Erwartungen wandeln sich. Es ist an Ihnen, den sich stetig wandelnden Erwartungen jederzeit gerecht zu werden. Und seien wir ehrlich: Eine Dame zu sein, ist eine Kunst, die kein Mann jemals beherrschen wird, erfordert es doch den geschickten Einsatz jenes Instruments, das nur die wenigsten Männer zu spielen vermögen, geschweige denn beherrschen – den Einsatz des Verstandes.
Radcliff klappte das Buch zu. Herrje. Und das war gerade mal ein Absatz. Wüsste er es nicht besser, würde er meinen, dass er sich nur deshalb darauf einließ, weil er hoffnungslos in Justine verliebt war.
Welch ein Gedanke! Er schluckte. Schlimmer noch: Er wusste, dass er in sie verliebt war. Genau das war ja das Problem.
15. Skandal
Eine Dame hat niemals und unter gar keinen Umständen trunken zu sein. Es schickt sich nicht.
aus: Wie man einen Skandal vermeidet
Am Abend
D as Schweigen bei Tisch war geradezu unerträglich. Radcliff lümmelte, den Arm über der Lehne, auf seinem Stuhl, den er so weit wie möglich vom Tisch zurückgeschoben hatte, und schenkte seinem Essen keine Beachtung. Sein Appetit auf Portwein schien hingegen unersättlich zu sein. So gesehen war er beim sechsten Gang angelangt.
Und dann Matilda. Sie saß Justine gegenüber, und obwohl ihre Lippe mittlerweile verarztet worden war, was ihren Anblick um einiges erträglicher machte, wirkte die arme Frau völlig teilnahmslos und starrte dumpf in ihre Suppe. Als ob es keine ganz vorzügliche Crème à la reine wäre, sondern aus der Themse geschöpftes Wasser.
Es wurde so viel Trübsal geblasen, dass Justine daran zu ersticken meinte.
Sie legte ihren Löffel neben der Porzellanschale ab und bedachte Matilda mit einem Lächeln. „Schmeckt es Ihnen nicht, Miss Thurlow? Soll der Koch Ihnen etwas anderes zubereiten? Sie müssen essen – schon allein wegen des Kindes.“
Matilda sah auf und betrachtete Justine mit unergründlichem Blick. Dann röteten ihre Wangen sich, was den schillernden Farben ihres geschundenen Gesichts noch eine weitere Nuance hinzufügte; sie rutschte unwohl hin und her und sah wieder beiseite. „Verzeihen Sie, Euer Gnaden, aber ich bin so müde, dass ich kaum Hunger habe.“
„Das ist nur verständlich“, meinte Justine, tupfte sich mit der Leinenserviette den Mund und warf sie neben ihr Gedeck. Sie setzte den Stuhl zurück und stand auf. „Sie sollten nicht länger unseretwegen leiden.“
Sie ging um den Tisch herum und reichte Matilda die Hand. „Kommen Sie. Schlafen Sie sich erst mal gründlich aus, dann haben Sie morgen früh bestimmt Appetit.“ Mit einem Blick zu Radcliff fragte sie: „Würde es Euer Gnaden etwas ausmachen, wenn wir uns jetzt zurückzögen?“
Er beäugte sie beide schweigend, führte das Glas an die Lippen und leerte es in einem Zug. Dann räusperte er sich und nahm etwas mehr Haltung an. „Nein. Natürlich nicht. Ich wünsche euch eine gute Nacht.“ Damit waren sie entlassen, und er bedeutete einem der bereitstehenden Lakaien, sein Glas nachzufüllen.
Behutsam legte Justine den Arm um
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