Der Dunkle Code
peinlicher Ordnung.
Dietrich Gruber wischte einen winzigen Staubfaden von dem Bild und zog die mittlere Schreibtischschublade auf. Kurz legte er die Sig-Sauer-Pistole auf den Tisch, um ein Blatt Papier aus der Schublade zu nehmen. Dietrichs Vater Heinrich Gruber war ein Spitzenmathematiker gewesen, der mit glänzenden Noten sein Studium an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität absolviert hatte. Nach einer kurzen wissenschaftlichen Karriere hatte er 1934 eine Anstellung im Hauptkontor der Dresdner Bank gefunden. Kurz vor dem Krieg übernahmen die Nazis die Bank, die sich zuvor in jüdischem Besitz befunden hatte.
Dietrich dachte an die Zeit, als er selbst zehn Jahre alt gewesen war. Der Vater war zu einem vorzeitig gealterten, kranken Mann geworden, der das karge Brot für seine Familie als Steuerberater für kleine Firmen verdiente. Aber trotz der Krankheit hatte der Vater eine brennende Verehrung der Intelligenz gepredigt. Stets hatte er gesagt, Dietrich solle seinen mathematischen Verstand entwickeln, denn das würde einmal belohnt werden.
Er wusste, dass er jetzt nahe dran an der Belohnung war. Drei lange Jahre hatte er über den Hinweisen gebrütet, die sich auf den vergilbten Seiten des Tagebuchs seines Vaters befanden. Diese Hinweise hatten ihn auf die Spur des Meisterwerks von Caravaggio gebracht, und dafür hatte er sich gründlich in die Kunstgeschichte vertiefen müssen.
Aber diesmal bestanden die Hinweise nicht aus Worten, sondern aus dem mathematischen Code, der im Gemälde von Caravaggio versteckt gewesen war. Dietrich glaubte nicht, dass sein Vater einen Code gewählt hatte, der eine gesonderte Tabelle oder einen speziellen Apparat erfordert hätte. Der Code konnte durchaus ganz einfach sein.
Am wahrscheinlichsten war, dass jeder fehlenden Zahl ein Buchstabe des Alphabets entsprach, aber der wievielte – das würde der Schlüssel zum Code verraten. Doch welche Zahl oder Zahlenfolge war dieser Schlüssel?
Er suchte sämtliche Papiere seines Vaters heraus. Viele waren es nicht. Zunächst versuchte er es mit der alten Telefonnummer ihrer Wohnung in München in den 1950er-Jahren, dann probierte er die Konfektions- und Schuhgröße seines Vaters. Nichts davon brachte ein vernünftiges Resultat.
Dann versuchte er, zu denken wie ein Kind. Sein Vater hatte ihm beigebracht: Einfach ist schön. Was wäre ein einfacher Schlüssel?
Der einfachste Schlüssel wäre, dass es gar keinen Schlüssel gab. Dietrich erschrak über die geradlinige Effektivität dieses Gedankens. Warum war er nicht früher darauf gekommen?
Er nahm Stift und Papier. Was, wenn jede Zahl direkt einem Buchstaben entsprach, ohne Schlüssel? Dann war die Eins das A, die Zwei das B und so weiter.
Er sah sich den Code an. 16186C152 423DHEG. Er schrieb: 1=A, 6=F, 1=A …
Das Ergebnis sah so aus: AFAHF …
Oder waren es am Anfang nicht 1 und 6, sondern die 16? Das würde dem P entsprechen. Dietrich schrieb unterschiedliche Kombinationen auf, bis er auf die Folge PRF stieß, die er durch die Gliederung 16-18-6 erhielt.
Die drei Buchstaben ließen ihn zusammenzucken. PRF war in einem Wörterspiel, das er als Kind oft gespielt hatte, die Abkürzung für PARZIFAL gewesen.
Dietrichs Herz fing an zu pochen. Er versuchte, sich zu beruhigen, indem er sich noch eine Tasse grünen Tee eingoss. Aus dem Fernseher unten tönte es noch lauter als zuvor. Was wäre aus ihm geworden, wenn er seine Zeit damit vergeudet hätte, Sport im Fernsehen anzuschauen?
Dietrich Gruber musste sich von niemandem sagen lassen, wer Parzifal war. Es war eine der Lieblingsfiguren des auch von den Nazis geliebten Opernkomponisten Richard Wagner: ein germanischer Ritter, der auf der Suche nach dem Heiligen Gral gewesen war. Nach dem Gral, von dem es hieß, es sei der Kelch gewesen, mit dem Christus das Abendmahl gespendet habe und der eine wundertätige Wirkung besitze. Schon König Arthur und die Ritter der Tafelrunde hatten nach dem Heiligen Gral gesucht.
Der grauhaarige Mann verzog die schmalen Lippen zu einem erleichterten Lächeln. Er war auf der richtigen Spur. Jetzt musste er nur noch kombinieren, welches Bild, welches Wort oder welche Idee ihn auf die Spur des Geheimnisses seines Vaters bringen würde. Und da er Heinrich Gruber kannte, wusste er, dass dafür die Kenntnis der germanischen Mythologie nötig war.
16
Aaro legte den Hörer auf und spürte, wie seine Wangen glühten. Essi hatte angerufen; Paolo war nur zu gern bereit gewesen, ihre Bitte zu
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