Der Dunkle Code
Takt des Herzschlages rauschte das Blut in Aaros Ohren. Und diesmal war der Pulsschlag schnell.
Die Toilettentür ging auf und jemand kam herein.
Aaro ballte die Fäuste.
Jemand ließ Wasser laufen, wusch sich die Hände und griff nach der Klinke an der Toilettenkabine. Aaro saß mit zusammengebissenen Zähnen mucksmäuschenstill auf dem geschlossenen Klodeckel.
Draußen hörte man ein ungeduldiges Knurren, dann lief wieder Wasser, die Tür ging und der Mann verschwand. War das der Grauhaarige gewesen? Aaro blieb still auf seinem Platz sitzen.
Zwei lange Minuten vergingen, dann kam erneut jemand herein. Auch diesmal wurde der Wasserhahn aufgedreht. Dann näherten sich die Schritte der Kabinentür. Jemand wollte wirklich unbedingt rein.
Es wurde energisch angeklopft. Sehr energisch.
Aaro überlegte, was er tun sollte. Viele Möglichkeiten hatte er allerdings nicht, denn er hatte nicht die Absicht, die Tür zu öffnen.
Das Klopfen wiederholte sich.
»Achtung!«, knurrte eine tiefe Stimme. »Zum Teufel! «
Eine Sekunde lang hatte Aaro Angst, dann erkannte er die Stimme und die deutschen Wörter, die Niko aus finnischen Comicheften gelernt hatte, wo die Deutschen immer die Bösen waren.
Zornig entriegelte Aaro die Tür.
Niko grinste ihn an. »Der Typ ist weg.«
»Was soll der Blödsinn? Wir verlieren ihn aus den Augen, wir müssen ihm folgen …«
»Keine Panik, er ist gerade in den Zeitschriftenladen gegangen. Auto und Fahrer stehen noch immer vor der Post.«
Aaro stolperte hinter Niko aus der Herrentoilette. Durchs Fenster sahen sie, wie der Grauhaarige mit einer Zeitung unterm Arm aus dem Laden kam und behände in den Geländewagen stieg. Der jüngere Mann startete den Motor. Der Mercedes wendete um hundertachtzig Grad und fuhr mit hoher Geschwindigkeit davon, in Richtung Oberstbrunn.
»Sofort hinterher!«, rief Niko voller Eifer. Im Laufschritt eilten sie zum Lupo. Niko gefiel es offensichtlich, jemanden zu beschatten und unter diesem Vorwand schnell fahren zu dürfen. Und sei es nur mit dem kleinsten aller Volkswagen.
19
Dietrich Hermann Gottfried Gruber nahm den silbernen Brieföffner mit Elfenbeingriff zur Hand und riss den Brief aus Faleria auf.
Das Arbeitszimmer, in dem er saß, wurde von einem gewaltigen Schreibtisch dominiert. Vor dem Fenster sah man düstere Fichten, etwas weiter weg leuchteten die schneebedeckten Alpenhänge an der Grenze zu Österreich. Das Haus war 1936 fertiggestellt geworden, zu der Zeit, als Adolf Hitler auf dem Höhepunkt seiner Macht stand.
Die Umgebung war ausgesprochen ruhig, das Haus hatte sich ein Mensch bauen lassen, der seine Ruhe haben und für sich sein wollte. Es lag sechs Kilometer außerhalb von Bergstein, jener Ortschaft, wo Dietrich Gruber den Brief abgeholt hatte.
Die Schreibtischplatte war mit grünem Stoff bespannt. Sie war so groß, dass man auf dem Tisch hätte wohnen oder zumindest Billard spielen können. Dietrich Gruber war jedoch kein Freund des Billardspiels. Zwar hatte er im Prinzip durchaus etwas für Spiele übrig, aber nur dann, wenn das Gewinnen klare mathematische Problemlösungsfähigkeit auf hohem Niveau erforderte. Für ihn waren sogar die Menschen nichts anderes als Spielfiguren auf einem großen Spielbrett, die von höheren Kräften hin und her bewegt wurden.
Auch sein Vater war dieser Überzeugung gewesen. Der Brieföffner stammte aus dem Nachlass dieses genialen Mannes, wie auch die übrige Einrichtung des Arbeitszimmers: die Stehlampe mit dem Teakholzfuß und dem ledernen Schirm, der fünfeckige Pokertisch und die Ledersessel sowie das Bücherregal, das eine ganze Wand einnahm und voller alter deutscher Literatur stand.
Dietrich spähte in das Kuvert und war überrascht. Im nächsten Augenblick kippte er den Inhalt des Kuverts auf den Perserteppich: einen Stapel Werbebroschüren. Auf eine der Hochglanzbroschüren war eine Metallscheibe von einem Millimeter Dicke geklebt worden, offenbar um der Sendung mehr Gewicht zu verleihen.
Verdutzt blätterte Dietrich in den italienischen Reklameschriften. Warum schickte ihm jemand solchen Mist? Diese Frage bereitete ihm ernsthafte Sorgen. Er witterte die Bedrohung, die in diesem Brief lag. Oder war bloß irgendein Italiener so blöd gewesen und hatte ihm die Reklame, die sich im Briefkasten des Hauses in Faleria angesammelt hatte, nachgeschickt? Womöglich hatte derjenige sogar vergessen, den eigentlichen Brief beizulegen …
Auf jeden Fall galt es nun, besonders wachsam zu sein.
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