Der dunkle Geist des Palio (German Edition)
Contraden, und Eva Maria musste sich alle Mühe geben, nicht in die Begeisterungsrufe der Panther-Anhänger einzufallen, als der mossiere der contrada ihres Verlobtendie Innenbahn zuwies. Wenn sie ehrlich mit sich war, musste sie zugeben, dass sie sich vor allem deswegen so sehr darüber freute, dass Lorenzo den besten Startplatz zugesprochen bekommen hatte, weil sie wusste, dass ihr Vater sich darüber ärgerte.
Mit jeder Contrade, die der mossiere nannte, verschlechterte sich Signore Morellis Stimmung und seine Missmutsäußerungen wurden stetig lauter. Aquila war immer noch nicht aufgerufen worden. Erst als der Startrichter auch die neunte Position durchgegeben hatte, für leocorno, entspannten sich seine Gesichtszüge wieder. Der Adler würde in rincorsa starten! Das war zwar die zehnte und letzte Startposition, sie hatte jedoch den Vorteil, dass der Reiter den Startzeitpunkt bestimmte und damit einen bedeutenden Vorsprung gegenüber allen anderen genoss.
Die fantini lieferten sich bereits vor dem eigentlichen Rennen mehrere Duelle zwischen den beiden Startseilen, die den Bereich der mossa markierten. Jeder versuchte, für sich die beste Position zu ergattern und die Kontrahenten abzudrängen. Geduldig wartete der mossiere, bis ein wenig Ruhe eingekehrt war, bevor er den Start freigab.
»Vai! Vai!« , riefen die Menschen auf dem Campo voller Ungeduld. Lauft! Lauft!
Und dann ging es auf einmal Schlag auf Schlag.
Der fantino des Adlers, Genesio, stieß seinem Pferd Pilato die Fersen in die Flanken und der Hengst preschte davon. Das Startseil fiel, die Pferde galoppierten los und die Zuschauer begannen zu schreien.
Pilato kreuzte die Bahn und schaffte es, sich hinter Lorenzos Stute Luna an die zweite Position zu setzen.
Mit Freude sah Eva Maria, dass Lorenzo einen ausgezeichneten Start hingelegt hatte. Nun ritt er dem Feld voran, gefolgt vom fantino des Adlers, und mit einem Mal war ihre Übelkeit wie weggeblasen. Der Panther oder der Adler, einer von beiden würde dieses Rennen gewinnen und in beiden Fällen hätte Eva Maria einen Grund zur Freude: Entweder siegte ihr Verlobter oder ihre contrada. Was konnte es Besseres geben?
An der Kurve San Martino hielt sie die Luft an. Lorenzo wäre nicht der erste Reiter, der an dieser gefährlichen, nahezu rechtwinklingen und abschüssigen Stelle die Kontrolle über sein Pferd verlor. Aber er saß fest auf dem Rücken des Fuchses und schlug mit dem nerbo auf die Kruppe des Tieres ein, um es zu noch mehr Tempo zu bewegen.
Der fantino des Einhorns hingegen hatte weniger Glück. Er wurde zu weit nach außen getragen, sein Pferd prallte gegen die Begrenzung und schleuderte seinen Reiter in hohem Bogen von sich. Zwei nachfolgende Pferde konnten nicht mehr rechtzeitig ausweichen und stürzten ebenfalls!
Doch Lorenzo lag weiter in Führung. Dicht gefolgt von Genesio, dem Reiter des Adlers, nahm er die nächste gefährliche Kurve, den casato, so eng wie möglich und stieß Luna dabei die Fersen in die Flanken, damit sie noch schneller liefe.
Der Fuchs hatte bereits Schaum vor dem Maul, aber angetrieben von seinem Reiter wirbelten seine Hufe nur so über den Boden und er ließ seinen Verfolger nicht an sich herankommen.
Eva Maria hielt sich die Hand vor den Mund. Von ihrer erhobenen Position aus konnte sie die gesamte Rennstrecke, die es dreimal zu umrunden galt, überblicken. Jetzt näherte sich Lorenzo bereits zum zweiten Mal San Martino und seine Führungsposition schien kaum mehr in Gefahr zu sein. Drei Reiter waren bereits aus dem Rennen ausgeschieden und in diesem Moment stürzte der vierte. Konnte es noch jemanden auf dem Platz geben, der daran zweifelte, dass dieser Palio zwischen dem Adler und dem Panther entschieden werden würde?
Wie besessen schlug Genesio mit dem Ochsenziemer auf sein Pferd ein und rückte tatsächlich näher an seinen Kontrahenten heran.
Lorenzo warf einen eiligen Blick über die Schulter zurück und ließ anschließend seinerseits den nerbo mit voller Wucht auf die Kruppe seines Pferdes niederfahren. Doch dem starken Antreiben zum Trotz wurde der Fuchs nicht schneller. Im Gegenteil schien er sogar an Tempo zu verlieren! Was war da los? Als er nun zum zweiten Mal an der engsten Stelle der Rennstrecke, dem casato, vorbeikam, strauchelte das Tier sogar, und Eva Maria schrie auf, weil sie fürchtete, Lorenzo würde stürzen.
Pilato lag jetzt nur noch eine halbe Pferdelänge hinter dem Führenden und er gewann immer mehr an Boden.
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