Der dunkle Geist des Palio (German Edition)
nicht das Unfassbare geschehen und jemand so unglücklich stürzen, dass lebensbedrohliche Verletzungen die Folge waren?
Als in diesem Moment Marias Handy klingelte, hoffte sie wider besseren Wissens, dass es Angelo war.
»Ciao, Maria!«
»Ach, du bist’s, Claudia!«
»Maria, du musst sofort kommen.«
»Was?«
»Ich weiß, es ist noch früh, aber es ist etwas passiert und ich brauche dich!«
Maria unterdrückte ein Seufzen und schaute zugleich auf ihre Armbanduhr. Das Proberennen würde bald gestartet. Wenn sie Angelo davor oder danach abpassen wollte, um mit ihm zu reden, dann brauchte sie dafür mindestens eine Stunde. »Hat es nicht vielleicht eine Stunde Zeit?«
Claudias Stimme begann zu zittern. »Es tut mir leid, passt es gerade nicht? Ich … ich … muss mit jemandem reden, sonst werde ich noch verrückt …«
Maria verdrehte stumm die Augen. Sie konnte hören, dass ihre Freundin kurz davor war, zu weinen. Und sie wusste nur zu gut, wie es sich anfühlte, wenn man jemanden zum Reden brauchte und niemand da war. Aber warum ausgerechnet jetzt? Noch einmal warf sie einen prüfenden Blick auf ihre Uhr. Wenn sie sich beeilte, konnte sie vielleicht vor dem Ende des Proberennens wieder auf dem Campo sein und Angelo dann abfangen.
»Maria?«
»Also gut, ich komme.«
» Grazie! Grazie! Bis gleich!«
Signore Morelli fiel es schwer, sich zu konzentrieren. Er hatte noch so vieles zu erledigen, letzte Absprachen zu treffen, nach dem Rechten zu sehen. Doch seine Gedanken schweiften immer wieder ab zu seiner Tochter.
Maria machte in der letzten Zeit einen bekümmerten Eindruck. Er hatte versucht, mit ihr zu reden, aber sie blockte seine Versuche immer wieder ab. Vielleicht aus Rücksicht auf ihn, da sie wusste, wie sehr ihn die letzten Vorbereitungen für den Palio gefangen nahmen, vielleicht, weil sie einfach nicht mit ihrem Vater über ihr Seelenleben sprechen wollte. Doch wenn sich Filipo Morelli ihr Gesicht ins Gedächtnis rief, ihre traurig blickenden dunklen Augen, mit denen sie ihn auch heute Morgen während des Frühstücks angeschaut hatte, und das blasse, erschöpfte Gesicht, dann zog sich sein Herz eng zusammen.
Ob sie immer noch Streit mit Angelo hatte? Oder machte sie sich Sorgen wegen des Einbruchs und der Beschädigung des Banners? Er hatte gesehen, wie blass Maria beim Anblick des beschmutzten Seidentuchs geworden war. Und wie sich ihre Augen ängstlich geweitet hatten, während sie seiner Geschichte über Eva Maria lauschte, während er von dem Reporter des La Nazione interviewt wurde. Machte sie sich etwa deswegen Sorgen? Glaubte sie womöglich, diese Sache habe etwas mit Spuk und Geistererscheinungen zu tun, so wie manche Leute munkelten? Morelli schob diesen Gedanken beiseite. Nein, das war lächerlich. Seine Tochter neigte wahrhaftig nicht dazu, an einen solchen Unsinn zu glauben. Sie war bodenständig und mit einer gehörigen Portion Verstand ausgestattet.
»Signore Morelli?«
» Si? «
»Der barbaresco wünscht Sie noch einmal zu sprechen.«
»Ich komme.« Seufzend erhob sich der capitano . Was auch immer Maria umtrieb – es musste bis nach dem Rennen warten.
Angelo war mit dem Ergebnis des letzten Proberennens sehr zufrieden. Amarosa hatte sich in den letzten drei Tagen, seit sie sich näher kennengelernt hatten, gut entwickelt. Die Stute hatte viel Potenzial. Wenn sie ihre Nervosität in den Griff bekam, war sie leicht führbar, reagierte gut auf die Hilfen ihres Reiters und setzte ihr Temperament zielgerichtet um. Ab und an musste Angelo sie mit seiner Stimme beruhigen. Aber auch das funktionierte. Er hoffte nur, dass Amarosa sich heute Abend beim echten Rennen ebenfalls so gut beherrschen ließ. Wenn er beim Start einen guten Platz abseites des Gedrängels bekam, dann sah es tatsächlich nicht allzu schlecht aus. Andernfalls … Aber darüber wollte Angelo jetzt lieber noch nicht nachdenken.
Bevor er Amarosa zurück in den Innenhof des Palazzo Pubblico lenkte, schaute er noch einmal über die Schulter zurück und ließ seinen Blick über die Piazza del Campo streifen. Vereinzelt standen kleinere Gruppen von Menschen an den Absperrungen. Aber nirgends konnte er sie erblicken: Maria.
Angelo seufzte und wandte sich ab. Er hatte so sehr gehofft, dass sie die Gelegenheit suchen würde, sich vor dem Rennen mit ihm auszusöhnen. Aber offensichtlich war sie immer noch sauer auf ihn. Nur mit Mühe konnte Angelo gegen seine Enttäuschung ankämpfen. Vielleicht hätte er sich
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