Der dunkle Geist des Palio (German Edition)
Maria spürte bei seinem Anblick eine unfassbare Wehmut in sich aufsteigen. Ein verschenktes Leben. Achtlos weggeworfen. Ein ebenmäßiges Gesicht mit tiefbraunen Augen, die einmal hoffnungsvoll in die Zukunft geblickt hatten. Eine Zukunft, die es nicht mehr geben würde.
Maria vergaß Raum und Zeit beim Betrachten dieses Gesichts, das fast noch kindlich wirkte. Mit weichen Zügen, die im Laufe des Lebens härter geworden wären.
Nur, dass es kein Leben mehr gab.
Und während Maria ganz und gar im Anblick dieses Antlitz’ versunken war, veränderten sich die Gesichtszüge plötzlich. Die zierliche, fast schon ein wenig stupsige Nase wurde gerader und weniger feminin. Die haselnussbraunen Haare wurden dunkler, bis sie so schwarz wie Ebenholz waren. Die ursprünglich runden Augen schienen sich zu weiten, wurden größer und mandelförmig. Der Mund mit den schmalen Lippen wurde voller, die Wangenknochen traten stärker hervor.
Die Erkenntnis traf Maria wie ein Schlag: Sie schaute in ihr eigenes Gesicht.
Mit einem entsetzten Aufschrei erwachte sie. Ihr Nachthemd – ein altes T-Shirt von Angelo – klebte schweißnass an ihrem Körper. Ihr Herz raste, während sie die Bettdecke zurückschlug und sich hastig aufrichtete.
Erleichtert blickte sie sich um. Es war alles so, wie es sein sollte. Der Schreibtisch am Fenster, die Kommode an der Wand mit den Fotos, die darüber hingen – Angelo und sie Arm in Arm, lächelnd einander zugewandt. Der Sessel vor dem Bücherregal, auf dem noch aufgeschlagen das Buch lag, in dem sie gestern Abend vor dem Zubettgehen gelesen hatte. Der helle, hochflorige Teppich auf dem Holzboden. Die Gardinen vor dem Fenster, aus dem man in den Garten blicken konnte.
Maria schüttelte sich, als könne sie dadurch die letzen Reste des Albtraums loswerden. Doch die Bilder der toten Eva Maria, deren Gesicht sich schließlich in ihr eigenes verwandelt hatte, ließen sich nicht so einfach abschütteln.
Als Maria wenig später durch die noch leeren Gassen schlenderte, hatte sie das Bild der toten jungen Frau immer noch vor Augen. Und auch in ihrer Erinnerung veränderte sich das Gesicht wie bei einer Holografie immer wieder: Mal war es Eva Maria, in deren leblose Augen sie sah, mal waren es ihre eigenen.
Auch die langen Tischreihen, die gestern noch so voller Leben gesteckt hatten, waren jetzt leer und wirkten wie Requisiten einer Geisterstadt. Hier und da standen noch einige leere Flaschen auf den Tischen, die von ihren Besitzern in den frühen Morgenstunden zurückgelassen worden waren. Das meiste jedoch war von fleißigen Helfern aufgeräumt worden und bis zum Abend, an dem das nächste Festbankett stattfinden sollte, würden auch die letzten Reste der gestrigen Feier verschwunden sein. Ob es jedoch heute eine Siegesfeier oder eine Trauerveranstaltung werden würde, stand noch nicht fest. Das lag nun allein in der Hand von Fernando, Fabioncello und Fortuna, der Glücksgöttin.
Maria war auf dem Weg zur Piazza del Campo, wo in einer kleinen Kapelle neben dem Palazzo Pubblico um acht Uhr eine Messe für die Reiter stattfinden würde, bevor sich die fantini zum letzten Mal vor dem eigentlichen Rennen einen Probelauf lieferten.
Dieser allerletzte Probelauf fand im Allgemeinen wenig Beachtung. Keiner der Jockeys nahm so kurz vor dem Palio noch das Risiko einer Verletzung in Kauf und aus diesem Grund verlief das Rennen in der Regel recht unspektakulär. Auch Maria hätte sich normalerweise dafür nicht ins Zentrum der Stadt begeben, doch hoffte sie, Angelo zu sehen und vielleicht ein Wort mit ihm wechseln zu können.
Die Unruhe nagte seit ihrem Streit an ihr. Sie hatte die Stunden gezählt, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte: Es waren vierunddreißig! Und diese letzte Begegnung war so unglücklich verlaufen, dass Maria sich am liebsten gar nicht mehr daran erinnert hätte. Die Vorstellung, Angelo würde den Palio bestreiten, ohne sich vorher mit ihr ausgesöhnt zu haben, war für Maria schier unerträglich. Wie sollte sie jemals damit weiterleben, wenn Angelo beim Rennen etwas zustieß und der letzte Satz von ihr im Zorn gesprochen worden war? Maria versuchte zwar, sich damit zu beruhigen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Angelo etwas Ernsthaftes zustieß, recht gering war, doch ausschließen konnte man einen Unfall mit tödlichen Folgen bei diesem gefährlichen Rennen nie. Immer wieder verletzten sich nicht nur die Pferde, sondern auch die Jockeys zum Teil schwer. Und warum sollte
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