Der dunkle Geist des Palio (German Edition)
nicht so von ihr provozieren lassen sollen. Er hätte ja genauso gut von Marias Eifersucht gerührt sein können. Stattdessen hatte er sich aufgeführt wie ein Platzhirsch, der seine Freiheit verteidigt. Er stellte sich vor, was Maria sagen würde, wenn er ihr irgendwann erzählte, worüber er mit Antonia geredet hatte, und wie sie dann gemeinsam darüber lachen könnten. Aber im Augenblick war ihm ganz und gar nicht zum Lachen zumute. Die Vorstellung, dass ihm beim Rennen etwas zustieß und das Letzte, was er zu Maria in seinem Leben gesagt hatte, war im Streit gewesen, bereitete ihm unerträgliche Magenschmerzen.
»Cazzo!«, fluchte Maria. Sie hatte sich so beeilt, nachdem sie Claudia den benötigten Trost zugesprochen und ihrer Freundin versichert hatte, dass alles wieder gut werden würde. Und jetzt? Jetzt stand sie abgehetzt und außer Atem auf der Piazza del Campo und das Proberennen war bereits gelaufen. Weit und breit war nichts mehr von Angelo oder einem der anderen fantini zu sehen. Der Platz lag wie ausgestorben vor ihr.
Und wofür das alles? Nur weil Claudia ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie in der vergangenen Nacht mit Alessandro im Bett gelandet war.
»Na toll!« Maria stampfte wütend mit dem Fuß auf. Ihrer Freundin liefen die Kerle scharenweise zu und sie selbst konnte nur tatenlos zusehen, wie ihre Verlobung gerade in die Brüche ging. Zwar tat ihr Claudia leid, die ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie ihrem Freund, der in Mailand auf sie wartete, fremdgegangen war. Und sie verstand auch, dass ihre beste Freundin nicht wusste, was sie jetzt machen sollte. Zumal sie sich wohl tatsächlich in Alessandro verliebt hatte. Aber hätte das Gespräch darüber, verdammt noch mal, nicht Zeit gehabt?
Natürlich wusste Claudia nicht, in welcher Situation Maria gerade steckte. Woher auch – Maria hatte ihr ja bisher noch nichts von ihren Schwierigkeiten erzählen können. Weder ihre beste Freundin noch ihr Vater, der sie auch an diesem Morgen wieder sorgenvoll betrachtet hatte, wussten über ihre Nöte Bescheid. Und auch heute Morgen hatte sie Claudia nichts von ihrem Streit mit Angelo erzählt, stattdessen immer wieder verstohlen auf ihre Uhr geschaut, bis Claudia schließlich fragte: »Hast du noch was vor?«
Maria gab zu, dass sie versuchen wollte, Angelo beim letzten Proberennen abzupassen, und obwohl Claudia nicht einmal ahnen konnte, weshalb Maria dieses Treffen so wichtig war, reagierte sie voller Verständnis: »Oje, und ich heule dir hier die ganze Zeit die Ohren voll! Es tut mir leid, daran habe ich gar nicht mehr gedacht.« Sie stand auf und fuhr fort: »Jetzt aber husch, husch, ab mit dir und wünsch deinem Liebsten viel Glück von mir.«
Trotzdem war Maria zu spät gekommen. Zu spät, um Angelo Glück zu wünschen. Zu spät, ihn um Verzeihung zu bitten. Zu spät, ihm ihrer Liebe zu versichern. Zu spät für … ja, einfach für alles.
»Cazzo!«, fluchte Maria noch einmal und machte sich niedergeschlagen auf den Weg nach Hause.
Mit Glockengeläut begann am frühen Nachmittag in den Contraden die Einkleidung. Alle Mitglieder der Komparserie des Adlers zogen ihre festlichen Kostüme an und bereiteten sich auf den corteo storico vor, der wie in jedem Jahr dem Palio voranging.
Maria hatte die sonnengelbe Bluse angezogen, die sie extra für den Palio neu erworben hatte. Zusammen mit der dreiviertellangen schwarzen Leinenhose, den flachen schwarzen Sandalen und natürlich ihrem fazzoletto, das sie locker um ihre Schultern gebunden hatte, war sie nun bereit für das Ereignis des Jahres. Ihr schwarzes Haar band sie mit einem ebenfalls gelben Haarband zusammen und war mit dem Ergebnis ihrer Bemühungen ganz zufrieden.
Überall auf den Straßen standen die Bewohner ihres Stadtviertels, die contradaioli, in kleinen Gruppen zusammen. Man traf sich, lachend und scherzend, um gemeinsam zur Kirche Oratorio di San Giovanni Battista zu gehen, wo die Segnung des Pferdes stattfinden würde.
Claudia und Alessandro warteten wie verabredet bereits an der Ecke Via dei Fusari auf Maria und vertrieben sich die Zeit, indem sie heftig miteinander knutschten. Ihr Anblick versetzte Maria einen leisen Stich. Nachdem sie einander begrüßt hatten, schlossen sie sich der Traube von Menschen an, die sich auf dem Weg zur Kirche befand.
»Deine Abneigung gegen den Palio hält dich offenbar nicht davon ab, ihn dir anzuschauen?«, wollte Maria von Alessandro wissen, der Claudia einen Arm um die Schultern
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