Der dunkle Geist des Palio (German Edition)
lächeln. Es war, wie sie gesagt hatte: Sie gaben ein verdammt hübsches Paar ab.
Maria, Claudia und Alessandro folgten den Komparserien ihrer Contrade durch die verschlungenen Gassen der Stadt. Immer wieder stoppten die Fahnenschwenker auf ihrem Weg und vollführten an den unterschiedlichsten Plätzen ihre einstudierten kunstvollen sbandierate – ihre Fahnenschwünge – unter den Blicken und dem Applaus der Zuschauer, bis sie schließlich die Piazza del Campo erreichten.
Marias Herz klopfte. Nicht nur wegen der Aufregung des kurz bevorstehenden Palio, sondern auch wegen der Gewissheit, dass Angelo hier irgendwo ganz in ihrer Nähe sein musste, obwohl sie ihn nirgends sehen konnte.
Die Bahn war bereits geräumt – Carabiniere sorgten dafür, dass sie auch frei blieb – und der sunto läutete unentwegt, bis alle Contraden auf dem Platz eingezogen waren und der corteo storico beendet worden war.
Insgesamt bestand der Umzug aus vierzehn unterschiedlichen Gruppen und siebenhundert Darsteller nahmen daran teil. Zunächst kamen die Stabträger der Gemeinde, die Fahnenträger zu Pferd, ein Dutzend Trommler, Trompeter und Musiker des Palastes, siebenundsechzig Fahnenträger und diverse Armbrustschützen aus Massa Marittima, der Stadt, die 1335 durch Siena erobert worden war, sowie Trommler, Fahnenträger und Bogenschützen aus Montalcino, dem Städtchen, das Massa Marittimas Schicksal als Unterlegene teilte.
Ihnen folgten die Fahnenträger des capitano del popolo mit drei Pagen, die sein Schild, seinen Helm und sein Schwert trugen, der capitano del popolo zu Pferd mit einem Reitknecht sowie drei Bannerträger der Stadtdrittel Sienas zu Pferd und mit Reitknechten.
Capitano del popolo nannte man im Mittelalter den gewählten Stadtherrn. Er durfte bei keinem corteo storico fehlen. Schließlich stellte der historische Umzug die Geschichte des mittelalterlichen Sienas seit dem Jahr 1260 dar, die mit dem Sieg über die rivalisierende Stadt Florenz im Jahr 1555 endete. Dieser Sieg wurde symbolisiert durch den Triumphwagen, gezogen von vier weißen Ochsen, der den Abschluss des Zuges bildete.
Fast drei Jahrhunderte Stadtgeschichte wiedergegeben in nur drei Stunden, dachte Maria, während die Männer in ihren farbenfrohen, prächtigen Kostümen an ihr vorbeikamen.
Jetzt zogen die Repräsentanten der Universität an ihr vorüber, gefolgt von den Vertretern der unterschiedlichen Zünfte Sienas und den Komparsen der zehn am Rennen teilnehmenden Contraden.
Marias Herzschlag beschleunigte sich, als sie Angelo erkannte, der auf einem soprallasso, einem Paradepferd, an dem Umzug mitwirkte. Seine Stute Ambrosa wurde ebenso wie die anderen für das Rennen ausgewählten Pferde geschont und wartete im Innenhof des Palazzo Pubblico auf ihren späteren Einsatz.
Maria versuchte, Angelos Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie wünschte sich wenigstens einen Blick von ihm, ein Lächeln, das ihr versichern würde, dass zwischen ihnen alles in Ordnung war! Doch Angelo starrte angestrengt geradeaus. Erst als er schon an ihr vorüber war, wandte er einmal den Kopf und ließ seinen Blick durch die wartende Menge schweifen, als suche er jemanden. Doch ihre Augen fanden sich nicht und schon erschien die nächste Gruppe, die Pagen der Gemeinde, die eine Lorbeergirlande trugen, und denen dicht auf dem Fuße die Komparsen der sieben Stadtteile folgten, die nicht an diesem Rennen teilnahmen.
»Schau mal!« Claudia stupste Maria mit dem Ellbogen an und deutete auf die sechs Reiter, die nun an ihnen vorbeikamen und die die nicht mehr existierenden Contraden Hahn, Löwe, Bär, Eiche, Schwert und Viper symbolisierten.
Maria nickte beflissen, doch sie schaute nicht wirklich hin. In ihren Gedanken war sie noch bei Angelo. Und so verpasste sie auch die nächsten Gruppen: die Fahnenträger, Armbrustschützen, Trommler und den Hauptmann der Justiz. Erst als der Triumphwagen mit dem Palio von den vier Ochsen an ihr vorbeigezogen wurde, richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Spektakel.
Die Straßen waren nun von Menschenmassen gesäumt. Und auch die Piazza del Campo füllte sich zusehends. Durch die Via Duprè, den letzten geöffneten Eingang zum Platz, strömten immer mehr Menschen, bis schließlich der gesamte Platz gefüllt war. In den Fenstern des Palazzo Pubblico versammelten sich die berühmten Gäste, Politiker und Prominente, auf den rot gesäumten Balkonen der umstehenden Palazzi, ja, sogar auf den Dächern standen Menschen und warteten
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