Der dunkle Geist des Palio (German Edition)
vielleicht. Ein Junge und ein Mädchen. So wie es früher auch bei ihnen gewesen war.
»Emily, mein Schatz.« Tante Amy beugte sich ein wenig zu dem Mädchen hinunter. »Es wird Zeit. Du musst jetzt in die Kutsche steigen.« Sie versuchte, Emily am Ärmel ihres dünnen Kleidchens mit sich zu ziehen, doch Emily entwand sich ihrem Griff und schlang ihre Ärmchen um Ray.
Ray spürte ihre Tränen an seiner Schulter, als er Emily in die Luft hob und fest an sich drückte. Er schloss die Augen, um Tante Amys Blicken zu entgehen, die ihn mit hochgezogenen Augenbrauen musterte, als täte er etwas Verbotenes. »Mach’s gut, mein kleiner Engel«, flüsterte er seiner Schwester ins Ohr.
»Kommst du bald und holst mich nach Hause?«
Ray räusperte sich, um die Tränen zurückzuhalten. »Ja, ich komme bald«, antwortete er endlich und ignorierte absichtlich den zweiten Teil von Emilys Frage. Wie gern hätte er ihr gesagt, dass er sie bald, ganz bald nach Hause holte. Aber es gab kein Zuhause mehr. Er wusste ja nicht einmal, wohin er selbst gehen sollte. Das Haus, in dem sie bislang gewohnt hatten, gehörte ihnen nicht. Nicht mehr. Es würde verkauft werden, um die Schulden zu bezahlen, die Rays und Emilys Vater angesammelt hatte. Falls jemand es haben wollte, denn es war nicht gerade in allerbestem Zustand.
Das Kutschpferd schnaubte und Tante Amy stieß ungehalten die Luft aus. »Jetzt wird es wirklich Zeit, Liebes«, sagte sie und zupfte an Emilys Arm.
Ray setzte seine kleine Schwester auf den Boden und sah zu, wie sie sich von Tante Amy widerwillig und stolpernd zur Kutsche zerren ließ, den Blick unverwandt zurück auf ihn gerichtet. Er versuchte zu lächeln, obwohl ihm nicht im Geringsten danach zumute war. Viel lieber hätte er Tante Amy zur Seite geschubst, Emily geschnappt und wäre mit ihr davongelaufen.
Aber wohin?
Der Reverend hob Emily in die Kutsche und half anschließend Tante Amy hinauf, die sich dicht neben das Mädchen setzte und den Arm um es legte. Es sah nach einer beschützenden Geste aus und doch diente sie wohl mehr dem Zweck, Emily am Fortlaufen zu hindern.
Der Kutscher schnalzte mit der Zunge und das Kaltblut setzte sich langsam in Bewegung, während der Reverend neben Ray trat und ihm tröstend eine Hand auf die Schulter legte.
Ray sah der Kutsche hinterher, bis sie in einer Staubwolke hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden war. Erst dann wurde ihm bewusst, dass sich Tante Amy noch nicht einmal von ihm verabschiedet hatte.
Dann erwachte eines Tages die Regenbogenschlange …
und drängte sich durch die Erdkruste …
Oodgeroo
1
Ray scharrte mit den Füßen im Sand. Den Kopf hielt er gesenkt, nachdem die beiden chinesischen Mädchen, die ihn zuvor aus sicherem Abstand beobachtet hatten, verschwunden waren. Die größere der beiden war etwa in Rays Alter gewesen und Ray hatte sie trotz ihrer Andersartigkeit – oder womöglich auch gerade deswegen – sehr hübsch gefunden. Die zweite hatte ihn an Emily denken lassen, denn sie war wie seine kleine Schwester ungefähr acht oder neun Jahre alt gewesen und hatte die ganze Zeit albern gekichert. Dann hatte die Kleinere plötzlich die Hand der Größeren ergriffen und sie mit sich davongezogen, bevor Ray Gelegenheit gehabt hätte, sie anzusprechen. Allerdings hätte er sich das ohnehin nicht getraut. Vielleicht waren die zwei auch Geschwister gewesen? So wie er und Emily?
Neben ihm auf dem staubigen Boden stand sein Koffer, in dem alles Platz gefunden hatte, was ihm geblieben war. Viel war es nicht. Zwei Unterhosen, zwei Paar mehrfach gestopfte Strümpfe, ein Unterhemd, das bereits löchrig war, sein gutes Hemd und eine Ersatzhose. Die verblasste Fotografie, die Mum, Dad, ihn und Emily als Baby zeigte, hatte er seiner Schwester mitgegeben. Als Erinnerung.
Er hob kurz den Kopf und blickte zu den zwei Männern, die einige Meter entfernt von ihm standen und sich leise unterhielten. Ab und zu schaute einer von ihnen zu Ray hinüber.
Der Reverend stand mit dem Rücken zu ihm. Ray konnte am Zucken seiner Schultern sehen, dass er wild mit den Händen gestikulierte, während er auf den anderen Mann einredete. Der andere hingegen rührte sich kaum. Ab und zu hob er seine Hand, um sich am Kinn oder am Hals zu kratzen. Ansonsten stand er stocksteif da und hörte sich scheinbar geduldig an, was der Reverend ihm zu sagen hatte.
Das Klappern von Hufen ließ Ray aufhorchen. Er wendete den Kopf und blickte dem
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