Der dunkle Grenzbezirk
war eine klare kalte Nacht, und wir schritten schnell aus. Der Mond war noch nicht aufgegangen, und es brannten nur wenig Straßenlaternen. Das blasse Licht der Sterne war unsere einzige Beleuchtung. Bald schon kamen wir zu dem Platz. Er war völlig menschenleer. Dahinter lag die dunkle Masse des Schverzinskischen Hauses. Aus einem Fenster im ersten Stock schimmerte zwischen schweren Vorhängen Licht. Ich folgte Carruthers, der links um den Platz herum direkt auf das Haus der Gräfin zuging. Wir kamen zu einer schmalen Passage, die zwischen dem Haus und einer Gartenmauer hindurchführte. Ein schmiedeeiserner Balken, mit einer Laterne, die nicht brannte, überbrückte die Passage. Darunter war ein schmiedeeisernes Tor – verschlossen.
Carruthers kramte in seiner Manteltasche und zog dann einen mattglänzenden Gegenstand hervor, mit dem er am Schloß herumprobierte. Nach einer Weile sah ich, wie seine Hände sich drehten, dann kratzte es, und mit einem leichten Quietschen ging die Tür auf. Carruthers fluchte leise und bedeutete mir, nicht zu sprechen. Mir fiel das Herz in die Hosen, und ich wartete auf den Alarm. Für meine angespannten Nerven war das Quietschen ein trommelfellzerreißendes Geräusch gewesen, aber der Posten vorne hatte es nicht gehört. Vorsichtshalber rührten wir uns fünf Minuten lang nicht. Dann gingen wir die Passage hinunter.
Es ging steil bergab. Die Mauern links und rechts wurden immer höher, und wir waren nun ganz im Finstern. Wir tasteten uns der Mauer entlang. Meine Finger ertasteten eine hölzerne Tür. Carruthers flüsterte mir zu, das sei der Eingang zu den Gesindewohnungen und ich solle aufpassen, denn gleich käme eine Treppe. Später fragte ich ihn, wie er denn bei hellem Tageslicht durch die schmiedeeiserne Tür gekommen sei. Er gab zur Antwort, sie sei offen gewesen, aber da er gesehen habe, daß sie benutzt werde, habe er zur Vorsicht einen Dietrich mitgenommen, den er sich aus einer Gabel des Hotels Europa zurechtgebogen habe. Dieser Beweis seines Einfallsreichtums ermutigte mich, und aus der nervösen Spannung wurde zum ersten Mal ein angenehmes Gefühl der Erwartung.
Wir kamen zum unteren Ende der Treppe, und ich war froh, daß die Mauern hier niedriger waren, so daß wir sehen konnten, wo wir gingen. Wir gingen ein wenig rascher, bis Carruthers nach etwa einer Viertelstunde stehenblieb, seine Hände zu einem Trichter formte und mir ins Ohr flüsterte:
»Jetzt müssen wir aufpassen. Wir sind ganz nahe beim Kai.«
Ich lauschte und hörte Wasser fließen. Die Mauern schienen sich weiter vorn in Dunkelheit aufzulösen. Carruthers zog mich in den Schatten der Mauer und flüsterte, daß wir am Fuß der Treppe seien, die zum Kai hochführe. Die Passage war offensichtlich für Bootsleute und die Dienerschaft als eine Art Lieferanteneingang gebaut worden.
Ich folgte Carruthers ein paar Schritte die Treppe hinauf und sah, wie sein Kopf sich vom Horizont abhob. Ein Feuerschein erleuchtete die eine Seite seines Gesichtes. Ganz in der Nähe hustete jemand, und ich hörte, wie ein Streichholz angezündet wurde. Es war die Wache. Carruthers drehte sich um und winkte mich die Treppe hinunter. Wir zogen uns in die Passage zurück.
»Er steht etwa zehn Meter vom Ende der Treppe entfernt. Ich werde einen Stein ins Wasser werfen. Das wird ihn auf die andere Seite des Kais locken. Wenn ich Ihnen ein Zeichen gebe, rennen Sie die Treppe hoch. Wenn Sie oben sind, wenden Sie sich nach rechts, bis Sie wieder zu einer Treppe kommen. Die führt in den Garten hinunter. Der Kai wurde wegen der Überschwemmungen so hoch gebaut. Auf der andern Seite geht es ziemlich weit hinunter.«
Er hob einen großen Stein auf, und wir gingen zum Fuß der Treppe zurück. Ich hörte Carruthers Arm durch die Luft sausen, und weit weg platschte ein Stein ins Wasser. Stille. Dann bewegte sich jemand auf dem Kai und Carruthers flüsterte: »Los!« Ich folgte ihm auf Zehenspitzen. Der Feuerschein war wie ein Suchscheinwerfer, aber ich wagte nicht stehenzubleiben, bis ich Carruthers beruhigende Hand auf meinem Arm fühlte. Wir standen oben an der Treppe, die in den Garten hinunterführte. Im nächsten Moment waren wir wieder im Dunkeln.
Wir blieben dort einige Minuten stehen, ehe Carruthers weiter in die Dunkelheit voranging. Meine Füße traten über Gras und Blätter streiften mein Gesicht. Mir war, als gingen wir im Zickzack. Einmal blieb die schwarze Gestalt vor mir stehen, und ich hörte Schuhe auf einem Kiesweg
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