Der dunkle Highlander
skean dhu in Händen halten und sich die schlimmste aller Fragen stellen: Was wäre geworden, wenn? Sie würde nie wieder in einem luxuriösen Penthouse dinieren. Nie wieder würde sie ein Mann so ansehen. Ihr Leben würde in der bekannten Einförmigkeit verlaufen. Wie lange würde es wohl dauern, bis sie vergessen konnte, dass sie einmal diese Kühnheit, diese Lebendigkeit gespürt hatte?
»Kommst du irgendwann zurück nach Manhattan?«, fragte sie mit dünnem Stimmchen.
»Nein.«
»Niemals?«
»Niemals.«
Sie seufzte leise, spielte mit einer Locke und wickelte sie sich um den Finger. »Was für ein Fluch ist das?«
»Würdest du versuchen, mir zu helfen?« Er sah auf, und sie erahnte eine Spannung in ihm, die sie sich nicht erklären konnte. Es war fast, als hinge sein Leben von ihrer Antwort ab.
»Ja«, räumte sie ein. »Wahrscheinlich würde ich dir helfen.« Und das entsprach der Wahrheit. Sie konnte zwar Dageus MacKeltars Methoden nicht gutheißen und sie verstand ihn nicht, aber sie konnte ihn unmöglich abweisen, wenn er in Not war.
»Trotz der Dinge, die ich dir angetan habe?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Im Grunde hast du mir nichts angetan. Ich bin weder verletzt noch irgendwie zu Schaden gekommen.« Außerdem hatte er ihr den skean dhu geschenkt. Würde er ihr erlauben, ihn zu behalten?
Sie war kurz davor, ihn danach zu fragen, doch da warf er ihr mit einer kurzen Bewegung aus dem Handgelenk das Kuvert zu. »Dann komm mit mir.«
Chloe fing das Kuvert auf. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. »W-was?« Sie blinzelte verwirrt und glaubte, sich verhört zu haben.
Er deutete mit dem Kinn auf den Umschlag. »Mach ihn auf.«
Chloe riss ihn auf und faltete die Papiere auseinander. Tickets nach Schottland - für Dageus MacKeltar ... und Chloe Zanders! Sie fröstelte, als sie ihren Namen las. Abflug morgen um neunzehn Uhr vom JFK Zwischenlandung in London, dann Anschlussflug nach Inverness. In weniger als achtundvierzig Stunden könnte sie in Schottland sein!
Wenn sie sich traute. Sie machte etliche Male den Mund auf und wieder zu, brachte aber keinen Ton hervor.
Schließlich fragte sie leise: »Wer bist du wirklich?
Der Leibhaftige persönlich, der mich in Versuchung führen will?«
»Tue ich das denn? Führe ich dich in Versuchung?«
In jeder Beziehung, dachte sie, gab ihm aber nicht die Genugtuung, das laut auszusprechen.
»Ich kann nicht einfach nach Schottland aufbrechen, noch dazu mit einem ... einem ...« Sie brach ab.
»Mit einem Dieb?«, half er ihr auf die Sprünge.
»Hm. Okay, du hast die Sachen zurückgebracht. Trotzdem, ich kenne dich kaum.«
»Würdest du mich denn gern besser kennen lernen? Ich fliege morgen ab. Für dich heißt das jetzt oder nie.« Er wartete und ließ sie nicht aus den Augen. »Manche Chancen hat man nur ein einziges Mal, und wenn man nicht aufpasst, hat man sie schnell verpasst.«
Chloe starrte ihn schweigend an. Sie war hin- und hergerissen. Ein Teil von ihr wehrte sich heftig, zählte tausend Gründe auf, auf gar keinen Fall etwas so Verrücktes, Impulsives zu tun. Ein anderer Teil - der sie gleichzeitig erschreckte und faszinierte - machte Freudensprünge und schrie: »Sag ja!« Mit einem Mal hatte sie den Wunsch aufzustehen, sich vor den Spiegel zu stellen und nachzusehen, ob sie sich äußerlich genauso verändert hatte wie in ihrem Inneren.
Hatte sie den Mut, etwas derart Ungeheuerliches zu tun? Diese einmalige Gelegenheit zu nutzen? Alles Vertraute aufs Spiel zu setzen und abzuwarten, was sich ergab?
Aber war es nicht ein ebenso großes Wagnis, in ihr altes Leben zurückzukehren? Wieder in dem winzigen Ein-Zimmer-Apartment zu hausen, jeden Tag allein zur Arbeit zu fahren und Trost bei Kunstgegenständen zu suchen, die ihr niemals gehören würden?
Sie hatte Blut geleckt und sehnte sich nach mehr. Was konnte schlimmstenfalls passieren? Wenn Dageus die Absicht hegen würde, ihr etwas anzutun, dann hätte er es längst getan. Die einzige echte Bedrohung, die von ihm ausging, konnte sie schließlich selbststeuern: Sie konnte entscheiden, ob sie sich von ihm verführen lassen wollte oder nicht. Ob sie es riskierte, sich in einen Mann zu verlieben, der zweifellos ein einsamer Wolf und böser Bube war. In einen Mann, der nicht um Verzeihung bat und nicht mit Lügen beschwichtigte.
Wenn sie klug war, ihren Verstand einschaltete und sich nicht voll und ganz auf ihn einließ, wäre das Schlimmste, was ihr zustoßen konnte, dass er sie irgendwo in
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