Der dunkle Kuss der Sterne
aber ich wusste nur zu gut, wie schnell sie damit war. »Schwöre beim Blut deiner Mutter«, herrschte sie mich an.
Ich war enttäuscht. Freundschaften, die nur auf Freiwilligkeit beruhten, waren offenbar zerbrechlich. »Hätte ich dir die Zweige sonst gezeigt, Juniper? Und wenn ich Dämonenkräfte entfesseln könnte, würde der Kerl mit dem Messer längst bei den Müllfischen im Kanal schwimmen, meinst du nicht?«
Ich war erstaunt, dass sie tatsächlich nervös zum Wasser blickte. »Aber der Kaufmann hatte recht«, sagte sie. »Niemand kann so mit Zahlen umgehen, ich habe dir eine Weile zugesehen. Ich weiß nicht, wie du es machst, aber etwas ist faul daran. Sehr faul. Es geht nicht mit rechten Dingen zu.«
»Es ist nur eine Gabe, nichts weiter.«
»Nur eine Gabe? Am Menschenhafen würden sie für jemanden mit so einer ›Gabe‹ dein Gewicht in Gold zahlen. Und wer weiß, vielleicht hast ja wirklich einen Handel dafür gemacht, wie der Kaufmann vermutet? Man sagt, ein Pakt mit Dämonen verleiht solche Fähigkeiten, die sonst kein Mensch hat.«
Das reichte. Ich schulterte den Rucksack. »Denk, was du willst, Juniper. Ich werde mich nicht rechtfertigen für das, was ich bin. Ich dachte, wir wären Freunde!«
»Wo gehst du hin?«
»Die Graue holen und dann suche ich mir einen Schlafplatz. Es ist Sperrstunde, oder nicht?«
Ich sah mich nicht um, als ich zur Brücke zurückging. Ich hatte befürchtet, dass mit den Zweigen meine Verbindung zu Tian zu Asche zerfallen war, aber er war immer noch ein Teil von mir, nur war der Kontakt schwächer geworden, spinnwebfeine Fäden, aber immer noch spürbar. Zumindest das war tröstlich.
Ich war nicht die einzige Nachtschwärmerin. Auf der Holzbrücke befand sich eine Frau, vielleicht war sie eben aus einem Gasthaus gekommen, zumindest war sie festlich gekleidet. Sie saß am Scheitelpunkt der Brücke auf dem Boden, die Hände neben sich aufgestützt, die Beine ließ sie über die Brückenkante baumeln – aber ich sah ihre Füße nicht, ihr langes Kleid hing fast bis zum Wasser. Im fahlen Licht der Gaslampe wirkte es grau und edel, mit einer Struktur wie raues Schleifpapier. Die Fingernägel hatte sie dunkel lackiert, und obwohl sie noch jung zu sein schien, war ihr glattes Haar, das ihr über den Rücken fiel, ebenfalls schon grau.
»Jetzt sei doch nicht eingeschnappt!«, rief Juniper mir hinterher. »Bleib schon stehen, Sturkopf.«
Die Nachtschwärmerin zuckte zusammen. Offenbar hatte sie mich jetzt erst bemerkt. Sie fror, ihre Lippen schimmerten bläulich und an den Armen hatte sie Gänsehaut. Als sie erkannte, dass ich kein Kontrolleur war, nickte sie mir zum Gruß zu, aber ihr Lächeln war traurig, es erreichte ihre Augen nicht. Sie waren groß und dunkel, aber sie wirkten seltsam matt. Sie hat Kummer , dachte ich und erwiderte ihren Gruß.
Juniper fluchte, ihre Sohlen schlugen auf Holz – und dann streifte etwas an mir vorbei, ein kleiner, scharfer Luftzug. Die Harpune traf die Nachtschwärmerin eine Sekunde, bevor ich die Brückenmitte erreicht hatte. Ich war es, die entsetzt aufschrie. Die graue Frau gab keinen Laut von sich, sie bäumte sich stumm auf, aber in ihrem Gesicht war immer noch das starre Lächeln zu sehen.
Ich war schon auf sie zugestürzt, um ihr zu helfen, als Juniper schnell wie ein Schatten an mir vorbeiwitschte. »Zurück!«, zischte sie mir zu und packte die Harpune. Es knirschte, als die Frau hineinbiss, dann katapultierte sie sich mit einer schlangengleichen Verrenkung von der Brücke. Das, was eben noch Stoff gewesen war, entpuppte sich nun als graue Fischhaut, rau und matt wie Sandpapier. Wasser überspülte es, dann war das Wesen schon untergetaucht. Nur ein schäumender Wellenbug, der sich rasend schnell entfernte, zeugte noch davon, dass sich das Wesen ins freie Meer flüchtete.
Ich schnappte immer noch keuchend nach Luft, Juniper dagegen war so ruhig, als hätte sie nur eine Katze weggescheucht. Seelenruhig holte sie etwas Helles aus dem Schaft der Harpune. »Hier! Ein Glücksbringer.« Sie reichte mir das weiße Ding. Es war ein kleiner dreieckiger Haifischzahn. »Hänge ihn dir um den Hals. Ihre Zähne hättest du im nächsten Augenblick sowieso dort gehabt.«
»Das kann doch kein Hai gewesen sein!«
»Schrei nicht so herum, sonst ruft noch jemand die Nachtpatrouille.«
»Aber … das Ding hatte die Gestalt einer Frau.«
Juniper hob gelangweilt die Schultern. »Was denkst du denn, was Haie so machen? Sie imitieren ihre Beute.
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