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Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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für immer.
    Das Mädchen tanzte weiter, ohne die Perfektion der wahren Gabe, aber dafür mit all dem Glanz, der Anmut, der Schönheit, die vor einigen Tagen noch mir gehört hatte. Ich hörte ihr Lachen, ein wenig rau, aber unwiderstehlich – Männer bekamen sehnsuchtsvolle Augen und einen entrückten Blick. Mit einer Drehung wirbelte sie herum. Mitten im Schwung entdeckte sie mich und erstarrte. Rostroter Stoff bauschte sich und fiel, zeichnete ihre Brüste nach, ihre Hüften, dann stand sie nur da, mit erhobenen Armen, eine Skulptur perfekter Anmut. Für eine gefrorene Ewigkeit starrten wir einander an, während die Zuschauer applaudierten, weil sie ihr Erschrecken für eine Schlusspose hielten.
    Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Mein Gesicht? Nein, es hatte natürlich keine Ähnlichkeit mit mir. Es war oval und schmal, hohe Wangenknochen gaben ihm etwas Weiches, Katzenhaftes. Ihre Augen waren smaragdgrün wie ein Meer voller Geheimnisse und Versprechen. Die Lippen hatten einen launischen Schwung und schienen sogar jetzt lächeln zu wollen. Und das Verrückte war: Hätte sie mir zugelächelt, ich hätte nicht widerstehen können, das Lächeln zu erwidern. So wie früher die Menschen mir nicht widerstehen konnten. Und mit einem Mal begriff ich, dass Tian nicht das Einzige war, was mir geraubt worden war. Meine wichtigste Gabe war nicht zerstört worden – und am allerwenigsten von Tian. Sie war gestohlen worden. Die Diebin stand vor mir. Und sie hatte mich sofort erkannt.
    Ihre Arme fielen herab, die Augen wurden schmal vor Zorn, die perfekten Züge bekamen die kalte Schönheit einer Klinge. Mit katzenhaft geschmeidigen Bewegungen raffte sie Münzen und Schmuck zusammen und schnappte sich einen weißen Sonnenmantel, der am Rand des Brunnens lag. Dann sprang sie über den Brunnenrand und tauchte wie ein rotgoldener Fisch im Meer der Leiber unter.
    Mein Schock wich jäher Wut. Ich spürte nicht, wie ich Menschen anrempelte, hörte nicht, wie ich angeschrien wurde, während ich mich mit Knien und Ellenbogen durch die Menge kämpfte.
    Ich war im Nachteil – meine Schönheit bahnte ihr den Weg, Menschen wichen vor ihr zurück und starrten ihr hinterher, standen mir im Weg wie Schlafwandler. Ein rostrotes Stück Stoff flatterte und verschwand um die Ecke. Sie will im Labyrinth der Altstadt verschwinden. Ich bog nach rechts ab, hetzte durch einen Hinterhof. In einer Ecke lag ein Stapel altes Holz, Skelette von getäfelten Räumen, Stöcke und Leisten, die meisten zerbrochen. Es klapperte, als ich im Laufen einen Stock aus dem Trümmerhaufen riss und weiterrannte. Die ferne Musik blieb endgültig hinter mir zurück und immer lauter hörte ich meinen eigenen keuchenden Atem. Ich passte sie punktgenau in der nächsten Gasse ab. Sie stürmte um die Ecke – und prallte zurück. Sogar jetzt war ihre Anmut so groß, dass es wehtat, sie anzusehen. Sie reagierte schnell. Bevor ich sie mit dem Stock zu Fall bringen konnte, schnellte sie wie eine Katze vom Boden, krallte sich in das Mauerwerk eines baufälligen Hauses – und kletterte blitzschnell daran hoch zu einer Mauer. Ich sah nur noch ihr Haar im Mondschein aufleuchten, als sie sprang, dann war sie fort. Ich fluchte. Aber sie hatte die Rechnung ohne mein Gedächtnis gemacht. Drei Möglichkeiten, vier Quergassen, zwei Richtungen. Vierzehn Sekunden!
    Das nächste Mal schnitt ich ihr den Weg kurz vor dem Leuchtturm ab. Sie war wendig, aber nicht schnell genug für mich. Sie versuchte zu flüchten, aber ich erreichte sie fast und stieß ihr den Stock zwischen die Füße. Sie stolperte und schlug lang hin. Ihr Schmerzensschrei war erschütternd. Und während ich mich noch über die Heftigkeit ihrer Reaktion wunderte, begriff ich, was sie bezweckte. »He!«, rief jemand. »Was ist da los?« Am Fuß der Treppe, die zum Leuchtturm führte, tauchten zwei Männer auf.
    »Hilfe!«, stieß sie hervor. »Sie ist verrückt, sie will mich umbringen!« Die Mienen der Männer sprachen Bände. Es war erbärmlich und genial. Eine Schönheit litt Todesangst. Und eine wilde, vor Wut schäumende Wahnsinnige – also ich – jagte sie mit einem Stock.
    Die Männer begannen zu brüllen und stürzten los. Sie rappelte sich erstaunlich schnell auf und war mit einem Satz an der Turmtreppe. Bevor sie davonschoss, blitzte sie mir noch ein bösartiges, triumphierendes Lächeln zu.
    »Miststück!«, presste ich zwischen den Zähnen hervor. Aber leider nützte es nichts, ich war in

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