Der dunkle Kuss der Sterne
Das ist ja das Schlimme an ihnen. Was glaubst du, weshalb es die Sperrstunden auf den Stegen gibt? Seit ein paar Jahren kommen die dreistesten von diesen Biestern direkt in die Stadt, um sich ihr Abendessen zu holen. Oben in der Altstadt ist es noch relativ sicher, aber hier unten bei den Brücken sollte man seine Harpune immer dabeihaben. Das hier war zum Glück nur ein kleines Exemplar. Aber du würdest dich wundern, wie lange sie es an der Luft aushalten.«
Ich musste mich am Brückenpfosten abstützen, so schwach fühlte ich mich.
»Diese Ungeheuer fangt ihr?«, fragte ich tonlos.
»Wenn es uns gelingt, denn leider sind sie schlau, die Ratten des Meeres. Sie fressen die Küste leer, wenn sie auf ihrer Wanderroute vorbeiziehen. Deshalb werden wir angeheuert – um sie zu dezimieren, damit die einheimischen Fischer noch ein Auskommen haben. Es gab schon Hungerjahre wegen ihnen. Ihr Fleisch ist leider ungenießbar.«
»Warum hast du mich nicht sofort gewarnt?«
»Erstens musste ich warten, dass sie sich zu dir umdreht. Die Rückenhaut hätte mir nur die Harpunenspitze verbogen. Und zweitens wollte ich sehen, ob du tatsächlich keine Ahnung hast. Und ja, jetzt glaube ich dir sogar, dass du nichts von den Windsbräuten wusstest. Bist du in einer Schmuckschatulle aufgewachsen? Das würde erklären, dass du dich bei den normalsten Dingen anstellst wie der erste Mensch.«
Normalste Dinge. Nun, dazu hätte ich ihr einiges erzählen können.
»Ich komme aus Ghan«, sagte ich. »Und dort ist … so ziemlich alles anders.«
»Glaube ich dir sofort, Schöne. Von einem Dorf mit diesem Namen habe ich zwar noch nie was gehört, aber sehr gefährlich scheint das Leben dort nicht zu sein.«
»Es ist eine Stadt! Die größte in fünf Ländern. Wie kannst du sie nicht kennen?«
Juniper zuckte mit den Schultern. »Na schön, dann eben eine Stadt, das erklärt die Schlüssel.« Sie schüttelte lachend den Kopf. »Spaziert einer grauen Dame direkt in die Arme und grüßt sie noch freundlich! Ich freue mich schon auf Umas Gesicht, wenn ich ihr das erzähle. Komm, holen wir deinen Hund, und dann schauen wir, was im Handelshafen los ist.« Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu. »Die Sperrstunde gilt nur für die, die nicht die richtigen Wege kennen. Und du schuldest mir jetzt erst mal einen Wein.«
Juniper hatte die Graue und mein Gepäck bei der Wirtin ausgelöst und mich über versteckte Wege zu den Baracken im Fanghafen geführt, wo ihre Gruppe ihr Quartier hatte. Die Fangboote dümpelten wie schlafende Fische an kleinen Bootsanlegern, und im Laternenlicht flickten ein paar Fischer riesige Löcher in den Netzen, die zwischen den Baracken aufgespannt waren. »Heute hatten die meisten Fischer Pech«, erklärte Juniper. »Auch unser Boot ist fast leer ausgegangen. Nur sieben kleine Haie. Schlechte Zahl, schlechtes Omen.« Sie verstaute mein Gepäck, dann winkte sie mir zu, ihr zu folgen.
Den Tag über hatte ich mir den Plan aller vier Häfen bis in die letzte Gasse eingeprägt, aber in dieser Nacht lernte ich mit Juniper noch ein anderes Tibris kennen. Je weiter wir über versteckte Treppen und durch Hinterhöfe hinauf in den alten Wohnteil des Handelshafens kamen, desto mehr Menschen begegneten uns. In der Nähe des Leuchtturms waren die Gassen mit Papierlaternen beleuchtet, die einen Heiligenschein von Motten trugen. Gitarrenklänge und Trommeln vermischten sich mit Klatschen und Lachen. Schon der Geruch nach Branntwein machte fast trunken. Und plötzlich standen Juniper und ich am Rande eines kleinen Festes in einem Innenhof. Hundertvierundsiebzig Leute , konstatierte eine besorgte Stimme in mir. Die Hälfte völlig betrunken. Vierzehn Messer …
Aber der Duft nach gegrilltem Fischfleisch und Knoblauch ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. »Auf einen guten Fang – auf unsere Geheimisse, und auf die Freundschaft!« Juniper drückte mir einen Weinbecher aus Perlmutt in die Hand. Freundschaft . Ich wusste nicht, warum mich das Wort plötzlich so traurig machte . »Wenn du fällst, dann fange ich dich auf.«
War alles, was Amad gesagt und getan hatte, eine Lüge gewesen?
»Mach nicht so ein Gesicht«, schalt mich Juniper. »Heute wirst du diesen Tian nicht mehr finden. Wenn er verschleppt wurde, musst du bei den Lagern der Sklavenhändler suchen. Morgen sage ich dir, bei wem du nachfragen kannst. Aber heute trinkst du mit mir – und zwar auf uns! Also?«
»Auf die Freundschaft«, antwortete ich und lächelte ihr
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