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Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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am Körper, dennoch hatte ich mich niemals nackter gefühlt. Zum ersten Mal in meinem Leben wusste ich nichts mehr – ich konnte keine Schrittlänge mehr benennen, keine Entfernung bestimmen, hatte keine Orientierung mehr, ich wusste nicht einmal mehr, in welche Himmelsrichtung wir uns bewegten. Zähneklappernd in nassen Kleidern kämpfte ich um jeden Schritt.
    »Wo sind die anderen zwei?«, flüsterte ich.
    »Weg«, erwiderte er knapp.
    Ich biss mir so fest auf die Unterlippe, dass es schmerzte. Verlassen zu werden, schien mein Schicksal zu sein. Falls mein Bruder meinen Kummer bemerkte, ging er nicht darauf ein.
    Er half mir dabei, mich unter einen Baum zu setzen und mich anzulehnen, dann holte er aus dem Dickicht am Ufer Amads Rucksack. Er war nicht nass, Amad hatte ihn wohl über diese schmalere Stelle des Flusses geworfen, noch bevor ich wusste, dass ich wirklich springen würde. Der letzte Gruß meines Jägers. Das Herz wurde mir noch schwerer.
    Bruder Wegesucher holte den Revolver hervor und reichte ihn mir. Dann fand er eine graue Jacke im Rucksack. Er warf mir das Kleidungsstück zu. »Zieh den nassen Mantel aus und lass ihn zurück.« Mit klammen Händen gehorchte ich und sah zu, wie er meinen Soldatenmantel im Fluss versenkte. Voller Scheu betrachtete ich den Fremden. In ihm erkannte ich mich nicht wie in Schwester Glanz.
    Der Wind trug uns Stimmen zu, ein Motor wurde angerissen.
    Diesmal wartete Bruder Wegesucher nicht darauf, dass ich selbst auf die Beine kam, er hob mich einfach hoch und trug mich mit großen Schritten davon. Unter meinen Armen spürte ich seine sehnigen Schultern und den glatten schwarzen Stoff seiner fremdartigen Kleidung.
    »Wo finden wir Kallas?«, flüsterte ich. »Wohin flieht sie?«
    »Sie sucht den Weg nach Hause.«
    »Wo ist das?«
    Diesmal hörte ich das Lächeln in seiner Stimme. »Medasland!«

Mein Bruder hatte mich in den Schutz der zerzausten Bäume getragen, nun flohen wir Seite an Seite, er mühelos mit federnden, langen Schritten, ich mit Seitenstechen und zusammengebissenen Zähnen, immer noch darum bemüht, meine Balance zu finden. Der Weg führte bergauf zwischen Bäumen, die immer größer wurden, bizarre Riesen mit rissiger grauer Rinde und verdrillten Ästen, die sich wie ausgestreckte Arme im Nebel verloren. Ich hatte mir eingebildet zu wissen, was Kälte war, aber jetzt spürte ich meinen Körper kaum noch. Eisiges Matschwasser kroch mir in die nassen Schuhe, gefrorene Locken kratzten über meine Wangen. Aber viel schlimmer als die Kälte war der neue Raum in mir. Es war, als würde ich zum ersten Mal alleine durch ein viel zu großes Haus gehen, dazu verdammt, von nun an ohne Gesellschaft darin zu leben. Nur meine eigenen Gedanken hallten darin wieder wie die Schritte von Gespenstern . Medasland , widerholte ich im Takt der Schritte, deren Länge ich nicht mehr kannte. Onyxfluss. Sterne. Krieg. Amads Gesicht gesellte sich zu den hallenden Worten in der Leere, und seine sehnsuchtsvolle Stimme, die mir in einer Bergnacht Geschichten zuraunte.
    Rechts von uns waren Soldaten im Nebel zu hören, nur konnte ich nicht mehr schätzen, wie weit entfernt die Verfolger waren. Ohne meine Zahlen war ich verlorener als ein Blinder in der Wüste.
    Irgendwo brachen Zweige, gefährlich nah; mir wurde heiß vor Schreck.
    Bruder Wegesucher hielt inne und bedeutete mir, ihm nach links zu folgen. Wir flüchteten hinter einen großen Baum, zwischen Wurzeln, die halb aus dem Erdreich ragten, und verbargen uns in dieser eisigen Höhle. Er legte den Arm um meine Schultern. Diese Berührung, die sofort wieder die alte Vertrautheit herbeirief, brachte mich fast zum Weinen. Immer noch war es ein Schock, dass er nun eine eigene Existenz hatte, getrennt von mir. Verstohlen betrachtete ich sein Profil mit der langen, geraden Nase und dem etwas fliehenden Kinn. In Menschenjahren wäre er sicher dreißig Jahre alt gewesen. Die ersten tieferen Falten zeichneten sein feines Gesicht. Das Haar war zu früh grau geworden, aber die schmalen Brauen waren noch dunkel. Die fremdartige schwarze Kleidung betonte, wie hager und sehnig er war. Ein wenig erinnerte der Stoff an Haihaut. Die Ärmel lagen eng an und reichten über den Handrücken. Wie Kleidung, die man unter gepanzerter Kampfkleidung tragen würde .
    »Gib mir den Dolch«, flüsterte er mir zu. »Wenn wir schießen, haben wir sofort die ganze Meute hier.«
    Ich staunte, wie richtig es sich anfühlte, ihm die Waffe zu überlassen. Sie war vom

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