Der dunkle Kuss der Sterne
Würgen, als Jenn aus der Zelle kroch. Ich half dem Jungen auf die Beine. »Tian?«, fragte ich noch einmal.
Er schüttelte den Kopf. »Durch diesen Gang werden alle Gefangenen geführt. Aber er war nicht dabei.« Jetzt hatte ich Gänsehaut. Die Mégana hatte gelogen . Um mich in die Falle zu führen.
Stimmen hallten durch die Gegensprechanlage, Gefangene, die einander riefen, Schläge von Fäusten, die gegen noch geschlossene Zellenwände hämmerten. Und ein Hilfeschrei, der mich wie eine heiße Lavawelle erfasste. Die Stimme, die ich so gut kannte wie meine eigene, kam nicht aus der Sprechanlage, sondern vom vorderen Ende des Ganges. Und sie war so schrill vor Angst, dass meine Beine mich ganz von selbst dorthin trugen, obwohl mein Verstand mir befahl, stehen zu bleiben. Aber da sah ich es schon, und nichts in der Welt hätte mich dazu gebracht, jetzt noch wegzulaufen.
Es war keine Zelle, sondern eine Art Verhörraum, betonglatt und so lichtlos, dass ich nicht erkennen konnte, wo er anfing und aufhörte. In der Mitte, in einem einzelnen, scharf abgegrenzten Lichtkegel, wand sich ein gefesseltes blondes Mädchen mit verbundenen Augen in Todesangst auf einem Metallstuhl.
Mir wich alles But aus dem Gesicht. »Vida!«
Meine kleine Schwester hob ruckartig den Kopf und hörte auf, sich gegen ihre Fesseln zu stemmen.
»Canda?« Ihre Stimme klang hoch und fiepsig wie die eines Kindes. Sie verstummte mit einem erschrockenen Luftschnappen, als sie die Klinge eines Messers an der Kehle spürte. Der Mégan war ins Licht getreten wie herbeigeschnippt.
Und während hinter mir eine Glaswand herunterdonnerte und mich in wattedichte Stille einschloss, wurde mir klar, dass ich in Sachen Täuschung und Fallen immer noch eine Schülerin war. Und eine leichtsinnige dazu. Juniper war nur das Ablenkungsmanöver gewesen. Hier war ich der Eisenhai und meine Schwester der lebende Köder, der mich auf das Boot gelockt hatte.
»Ergib dich oder sie stirbt«, sagte der Mégan ruhig.
Amad. In diesem Moment hasste ich ihn, obwohl er machtlos dagegen war, dass der Mégan sich seiner Strategien bedienen konnte.
»Habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt?« Die Klinge biss tiefer in die Haut. Vida verzog den Mund zu einem eckigen, grotesken Angstlächeln. Eine Träne rann unter der Augenbinde hervor, folgte der gespannten Linie ihres Mundwinkels und tropfte vom Kinn auf die Schneide. Ich hatte mir eingebildet zu wissen, was es hieß, hilflos und ohnmächtig zu sein, aber das hier war noch schlimmer als der Moment des Ertrinkens. Wahida und Trinn kamen auf der anderen Seite der Scheibe an. Sie waren wie Katzen hinter Fensterglas, ich sah sie, aber ich hörte keinen Laut.
Alle Kraft wich aus mir. Mein Dolch fiel zu Boden. »Tut ihr nichts!« Ich stieß den Dolch mit dem Fuß fort und er rutschte über den Boden und blieb an der Wand liegen.
Der Mégan lächelte. In dem kalten Lichtkegel, der den Stuhl umfasste, wirkte es wie das Grinsen eines hohläugigen Totenschädels.
Waffen wurden mit einem Klicken entsichert. Zwei Soldaten mit den vernarbten Gesichtern von Schlächtern tauchten so unvermittelt von zwei Seiten aus dem Dunkeln auf, als seien sie aus den Wänden getreten. Beide zielten auf mich. Wo kommen sie her? Woher kam der Mégan? Es muss einen Zugang von der Rückseite geben.
Die Winkel waren schwarz vor Schatten, als wären dort versteckte Nischen. Aber die Dunkelheit brodelte. Und als ich erkannte, warum, war ich längst nicht mehr sicher, ob ich erleichtert oder besorgt sein sollte.
Zeit gewinnen! , redete ich mir zu. Vielleicht halten die Wächterschatten ihr Versprechen. Vielleicht findet Wahida einen Weg, die Wand zu entriegeln, vielleicht …
»Die perfekte Falle«, sagte ich zu dem Herrscher. Meine Stimme zitterte. »Ich habe tatsächlich geglaubt, dass Tian im Gefängnis ist. Und Ihr wusstet meine schwache Stelle gut einzuschätzen.«
»Tja, ein Herz stört nur bei der Jagd«, entgegnete der Mégan. »Aber bei einem Gegner ist es die beste Waffe, die sich gegen ihn selbst richtet.« Der Widerhall von Amads Worten war wie ein glühend heißer Stich. Nun, zumindest eine Täuschung war mir gelungen: Der Mégan glaubte tatsächlich, dass ich Tian immer noch liebte und dass es mir nur darum ging, ihn zu befreien.
»Ich habe mich ergeben. Lasst Ihr Vida frei?«
»Kommt darauf an, wie nützlich deine Geheimnisse für uns sind.« Ich konnte die Wächterschatten nur als eine dunklere Bewegung in der Luft wahrnehmen.
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