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Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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    Ich schluckte, folgte ihm mit weichen Knien vom Karren und nahm die Lederleinen in die Rechte. Auf einen Wink von Amadar blieben die Tiere gehorsam neben mir sitzen.
    Amadar trat zu der Torwache und händigte einem Mann einige Papiere aus. Die beiden entfernten sich zu einem Unterstand. Von ihrem Gespräch schnappte ich nur Fetzen auf: »Anweisung der Méganes«, »Jagdhunde«, »Verkauf« und »Smila«. Der Wächter nahm einen Zettel, wandte sich zu mir um und musterte mich prüfend aus zusammengekniffenen Augen. Sekunden, die mir wie eine schreckliche Ewigkeit vorkamen. Vielleicht verglich er mich mit einem Steckbrief? Gleich würde er mir befehlen, das Tuch vom Mund zu nehmen. Das geht nicht gut . Diese Maskerade funktioniert niemals .
    »He, komm her!«
    Ich wusste es.
    Nur ich bemerkte, dass Amadar den Hunden ein Zeichen gab – und sie gehorchten ihm und trotteten auf den Wächter zu. Ich konnte nur mitgehen. Verzweifelt zählte ich die Daten des Sperrblocks auf. Vierundzwanzig Schienen , acht Scharniere, ein Kugellager mit eintausendachthundertdreißig Stahlkugeln, Durchmesser jeder Kugel vier Komma sieben fünf Zentimeter, Lastverteilung …
    Fell streifte meine Fingerknöchel. Die alte Hündin, die an der langen Leine hinter mir hergelaufen war, tauchte plötzlich unter meine linke Faust, und ohne nachzudenken öffnete ich die Hand und streichelte ihr über den Nacken.
    Die vertraute Geste schien das Misstrauen des Wächters zu zerstreuen, von einer Sekunde auf die andere verlor er jegliches Interesse an mir und stempelte die Papiere ab. Als wir das Tor durchschritten – nacheinander, weil es für zwei Leute zu schmal war, schielte ich verstohlen nach oben. An der Unterseite des Sperrblocks prangte eine in den Stein gemeißelte Frauenfratze mit aufgerissenem Maul – eine Todesdämonin aus alter Zeit, wie ich aus Büchern wusste. Und das Letzte, was ein Verurteilter vor seiner Hinrichtung sieht.



Der Wind traf mich wie eine sandige Faust, die mich zurück in die Stadt stoßen wollte. Stoff knatterte, ich musste mich mit meinem ganzen Gewicht gegen diese Kraft stemmen. Hinter uns fiel das Tor zu. Amadar nahm mir die Hunde ab – nur die alte Hündin ließ er bei mir. Sie blieb dicht an meiner Seite, als ich die ersten Schritte machte, unbeholfen in dem rutschenden Sand. Nie hätte ich gedacht, dass mich die Zuneigung eines alten Hundes einmal fast zum Weinen bringen würde, so wertvoll erschien sie mir. Ich wühlte die Finger in das kurze Fell und schritt weiter. Noch nie war mir der Himmel so groß und bedrohlich erschienen. Von den Dachterrassen aus hatte ich die Weite geliebt, jetzt erschreckte sie mich nur noch. Und obwohl ich es hätte besser wissen sollen, wandte ich den Kopf.
    Gegen den Nachthimmel erhoben sich die Galgen und Pfähle auf dem Richtplatz vor der Stadtmauer wie Relikte aus einer barbarischen Zeit. Wie oft hatte ich zugeschaut, wie meine Eltern ihre doppelte Unterschrift unter Todesurteile setzten? Aber der Tod auf Papier war etwas ganz anderes als die beiden Gestalten, die sich selbst jetzt noch gegen die Fesseln zu stemmen schienen.
    Tians Wächter waren mit einer Gewehrsalve hingerichtet worden. Und es musste ein schneller Gerichtsprozess gewesen sein. Man hatte ihnen nicht einmal Zeit gelassen, die weiße Tracht der Verurteilten anzulegen. Selbst im Mondlicht konnte ich erkennen, dass sie noch ihre schwarzen Anzüge trugen. Die ehemals weißen Hemden hingen in Fetzen. Verkrustetes Blut färbte den Stoff. Der größere Mann, der mich vor Tians Prunkzimmer mit der Faust niedergeschlagen hatte, hing vornüber, als würde er nur schlafen, und schwankte im Wind hin und her. Es ist deine Schuld , schien er hasserfüllt zu flüstern.
    Keuchend warf ich mich dem Wind entgegen und stolperte weiter – den rachsüchtigen Blick der Toten im Nacken. Meine Lunge stach, aber erst als ich Amadar eingeholt hatte, wagte ich, langsamer zu werden.
    »Hör nicht auf die Toten«, sagte Amadar, ohne sich nach mir umzusehen.
    »Tote reden nicht!«, stieß ich atemlos hervor.
    Im Mondschatten waren seine Augen nur dunkle Flecken. »Du hast recht. Reden ist nicht ihre Stärke. Meist singen sie. Hör nicht hin und denke nicht an sie. Sie folgen den Erinnerungen an sie so gierig wie halb verhungerte Hunde einer Blutspur. Ihnen bleibt nichts anderes als das.«
    Ich schluckte. Es war leichter, über solchen Aberglauben zu lachen, wenn der Wind einem nicht mit Flüsterstimmen um die Ohren

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