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Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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mit Pfeil und Bogen, fliegende Äxte – all die kultischen Bilder, die ich meinen Mädchen auf die Haut gezeichnet hatte!
    Eine glühende Welle von Heimweh erfasste mich, ballte sich in meiner Kehle zu einem heißen, schmerzhaften Knoten. Und dann entdeckte ich Symbole, die ich nicht kannte, ungelenke, wütende Zeichnungen. Fratzen, Chaos und … ein Fluss? Mitten in der Wüste? Wellenlinien, kein Zweifel. Krieger standen dicht gedrängt. Ihre Lanzen ragten in den Himmel. »Was bedeutet das?«, flüsterte ich. Uralter Atem umwehte mich, und ich bildete mir ein, das Flüstern meiner Ahnen zu hören, aber ihre Antwort konnte ich nicht verstehen. Ich leuchtete zwischen zwei Fetzen – und entdeckte blaue Sterne, allerdings ohne das gütige Auge, das ich zu zeichnen gelernt hatte. Und noch ein weiteres verstörendes Bild hatte ich nie zuvor gesehen. Meine Haut war rau vor Gänsehaut und mein Durst vergessen. Die Schlachtfelder? Die Kämpfe im großen Chaos?
    Aber hier wurde keine ruhmreiche Schlacht dargestellt, sondern ein Gemetzel. Sterbende wanden sich in Seen aus blauem Blut. Eine Art Bogen schien die Sterbenden und die Toten von anderen Menschen zu trennen, eine gewölbte Haut, dünn wie die einer Seifenblase. Etwas weiter rechts von ihr befanden sich mit groben Strichen gezogene Käfige, in denen Menschen eingesperrt waren. Die Besiegten. Aber ihr Aussehen glich keiner Beschreibung aus meinen Geschichtsbüchern. Sie trugen Helme, die in Masken übergingen. So wurden die Gesichter auf unheimliche Weise ausdruckslos und völlig gleich.
    Ich kenne doch alle Zeichen, die Geschichte meiner Familie – und das hier gehört nicht dazu . Aber es war unsere Farbe, das besondere Schattenblau, das nach geheimen Rezepturen gemischt wurde, die nur die Ältesten jeder Generation hüteten. Niemand außer den Morenos durfte diese Farbe verwenden, auf dieses Sakrileg stand die Todesstrafe. Und jeder Strich dieser Malerei zeigte unseren Stil und den unnachahmlichen Schwung, die Details, die wir jahrelang im Unterricht erlernten. Selbst wenn ein Fremder die Farbe gestohlen hätte, die Zeichnung selbst hätte ihn dennoch verraten. Vielleicht stammten die Motive ja aus ältester Zeit und waren Geschichten, die meine abergläubischen Ahnen ihren Nachkommen erzählt hatten und die nicht einmal mehr in der Stadt überliefert waren? Aber dann fing der Lichtkegel eine Darstellung ein, die mich endgültig verstörte: Hinter den Käfigen knieten fünf Kriegerinnen und Krieger meiner Stadt. Gefesselt und mit gesenkten Köpfen, als würden sie ihr Schicksal erwarten. Und – ich konnte nicht fassen, was ich da sah – eine von ihnen war der weibliche Teil der ersten Herrscher-Zweiheit unserer Stadt, Tana Blauhand. Und ihr Gefährte, Khelid Wolfsherz, und zwei andere Krieger richteten die Pfeile auf sie. Die Härchen an meinen Armen stellten sich auf, so kalt war es mit einem Mal.
    »Wo bleibst du?« Amadars Stimme hallte um mich herum. Sein Schatten fiel in die Höhle.
    Reflexartig schaltete ich die Taschenlampe aus und sprang auf. »Ich komme schon!«, rief ich viel zu laut. Als hätte meine Stimme irgendwo in der Ferne Steinschlag ausgelöst, prasselte es. Ein Keuchen und Röcheln echote in der Höhle. Es wurde lauter und schien von allen Seiten zu kommen. Aber ich wusste, es war der schwarze Schlund – irgendetwas scharrte darin, kam näher. Mit weichen Knien zog ich mich rückwärts zurück in Richtung Höhleneingang und rettete mich mit einem Satz ins schützende Sonnenlicht. Ein paar Sekunden später zeichnete sich etwas Helles im flachen Schlund des Eingangs ab, eine verstaubte vierbeinige Gestalt trottete in die Sonne und schüttelte sich. Eine Wolke von Spinnweben und Staub flimmerte wie ein Heiligenschein in der Sonne, ein schlaffer Schlangenkörper schlenkerte in dem Hundemaul herum. »Graue!«, schrie ich. Meine tapfere alte Hündin ließ die erbeutete Schlange aus ihrem Maul fallen, nieste und schenkte mir ein hechelndes, verschmitztes Hundelächeln. Meine Mutter hätte mich gescholten, froh zu sein, dass ein alter, nutzloser Hund noch lebte. Aber diesmal waren mir meine strengen Stimmen egal. Ich stürzte zu der Hündin und umarmte sie. Mit einer Zunge, an der noch Schlangenschuppen klebten, leckte sie über meine Hände. Ihr Fell war kühl und roch muffig nach Staub und alten Knochen. Ihre Gegenwart drängte die Gespenster der Höhle zurück. »Erst so dumm, in die Falle zu laufen, und dann so leichtsinnig, dich im Versteck der

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