Der dunkle Ritter (German Edition)
Scherers war ein süßes Mädchen, gerade sechzehn, also in dem Alter, in dem Emmalyn mit Garrett verheiratet worden war. Vielleicht hatte Emmalyn aus diesem Grund ein ausgeprägtes und fortdauerndes Interesse am Wohlergehen dieses Mädchens. »Wie lange hat dein Baby dich letzte Nacht schlafen lassen, Lucy?«
Das Mädchen zuckte schwach mit den Schultern und schüttelte den Kopf. »Bitte, Mylady, mir geht es gut. Mein Vater hat recht; mir macht Arbeit nichts aus.«
»Nun, mir auch nicht«, erwiderte Emmalyn. »Kümmere dich jetzt um dein Kind, Lucy. Ich glaube, der Kleine hat Hunger.«
Als das Mädchen daranging, ihr weinendes Baby hochzunehmen, zog Emmalyn den Korb mit Wolle, der zu Lucys Füßen gestanden hatte, zu sich heran. Obwohl die Schäfer die Schafe vor der Schur im Fluss gewaschen und sie auch gebürstet hatten, befanden sich noch immer Kletten und andere Verunreinigungen, die von Hand entfernt werden mussten, in den Vliesen. Es war eine langweilige, aber notwendige Arbeit, wenn sie auf dem Markt den besten Preis dafür erzielen wollten. Ebenso unvermeidbar würde der letzte Arbeitsschritt sein, der noch unangenehmer war. Denn wenn die Wolle gereinigt war, musste sie in einer Mixtur aus Urin und Wasser gewaschen werden, um die Reste des Wollfetts, die von der Haut der Schafe stammte, zu entfernen.
Mit der Absicht, ihren Teil beizutragen, griff Emmalyn in den Korb und zog eine Portion Wolle heraus, breitete sie auf ihrem Schoß aus, glättete sie und zog sie auseinander, um die Kletten, das Ungeziefer und das Stroh sehen zu können, das noch darin klebte. Neben ihr hatte Lucy die Bänder ihrer Tunika gelöst und ihre Brust entblößt und begann nun, ihren kleinen Sohn zu stillen.
Emmalyn beobachtete sie sehnsüchtig und fragte sich voller Zweifel, ob auch sie jemals die Möglichkeit haben würde, ein eigenes Kind in den Armen zu halten. Ihr Herz sehnte sich nach dem Kind, das sie sich so sehr gewünscht hatte, das Kind, das sie auf so tragische Weise durch eine Fehlgeburt verloren hatte. Wie sehr sie das kleine Mädchen vermisste, das jetzt auf tapsigen Beinen herumtollen und reizenden Unsinn plappern würde, wie Dreijährige es eben taten. Emmalyns Schwangerschaft war der eine helle Punkt in ihrer Ehe gewesen; der Verlust des Kindes hatte eine tiefe Wunde hinterlassen, die nie ganz verheilen würde.
Emmalyn war so tief in ihre schmerzlichen Erinnerungen versunken, dass sie nicht auf ihre Arbeit achtete. Eine Klette piekste heftig, als sie mit der Hand über die Wolle auf ihrem Schoß strich. Emmalyn schrie leise auf, eher aus Überraschung als aus Schmerz, und begann, ihre Fingerspitze von der stachelbewehrten Kugel zu befreien.
»O Mylady!«, jammerte Lucy und entzog dem Baby ihre Brust, um Emmalyn zu Hilfe zu kommen. Sie zog ihre Tunika zusammen und legte ihren Sohn zurück in sein Bett aus Heu. »Mylady, bitte, ich sollte eigentlich diese Arbeit tun, nicht Ihr.«
»Kümmere dich um deinen Sohn, Lucy. Mir geht es gut«, entgegnete Emmalyn, ihre Stimme klang rau und abgehackter, als sie es wollte. Das Mädchen streckte trotzdem die Hände nach der Wolle aus. »Ich habe gesagt, ich werde das tun.«
Als ihre Lady einen so scharfen Ton anschlug, brach die junge Mutter in Tränen aus.
»O Lucy, es tut mir leid«, tröstete Emmalyn sie und fühlte sich abscheulich wegen ihres Verhaltens. »Ich bin nicht ärgerlich auf dich. Ich hätte nicht so aufbrausend sein dürfen.«
Auf der anderen Seite der Scheune ließ die Frau des Scherers ihre Arbeit ruhen, um zu ihrer schluchzenden Tochter zu gehen. »Bitte vergebt ihr, Mylady«, sagte sie. »Es ist nicht Euretwegen. Dieses Mädchen ist in den letzten Monaten nur noch ein Bündel von Gefühlen. Gestern Abend hat sie stundenlang wegen eines zerschlagenen Kruges geweint.«
Mitleidig und zerknirscht lächelte Emmalyn, als sie Lucys schwielige Hand ergriff und sie sanft drückte. »Sie ist müde. Lucille, warum bringst du deine Tochter nicht in eure Hütte und lässt sie und das Baby ein wenig ausruhen? Ich werde Martin bei der restlichen Arbeit hier helfen.«
Die Frau des Scherers nickte, dann nahm sie das eingewickelte Kind hoch und führte ihre schniefende Tochter aus der Wollscheune. Martin murmelte eine Entschuldigung für seine Familie, während Emmalyn einen Armvoll frisch gereinigter Wolle zu ihm trug. Er nahm ihn entgegen, ohne sie dabei anzusehen, und stopfte sie zusammen mit einigen anderen vorbereiteten Vliesen zu einem Bündel zusammen. Und
Weitere Kostenlose Bücher