Der dunkle Schirm
seinem
Bett stand und mißbilligend auf ihn herabschaute.
Das Geschöpf hatte viele Augen, die gleichmäßig über seine Körperoberfläche verteilt waren, trug ultramoderne, teuer aussehende Kleidung und ragte ungefähr zweieinhalb Meter hoch auf. Außerdem hielt es eine gewaltige Schriftrolle.
»Du wirst mir meine Sünden vorlesen«, sagte Charles Freck. Das Geschöpf nickte und erbrach das Siegel der Schriftrolle. Freck, hilflos auf seinem Bett liegend, sagte:
»Und das wird hunderttausend Stunden dauern.«
Das Geschöpf von irgendwo zwischen den Dimensio-
nen bedachte ihn mit einem scharfen Blick aus seinen unzähligen, wie aus Facetten zusammengesetzten Augen und sagte: »Wir sind nicht länger im weltlichen Universum. Kategorien wie ›Raum und Zeit‹ die den Niederungen materiellen Seins angehören, treffen auf dich nicht länger zu. Du bist auf die Ebene transzendenten Seins 325
erhoben worden. Deine Sünden werden dir ohne Unterlaß vorgelegen werden, in alle Ewigkeit, im Schichtdienst.
Die Liste wird nie enden.«
Vertrau nie einem Dealer, dachte Charles Freck und
wünschte sich, die letzte halbe Stunde seines Lebens un-geschehen machen zu können.
Tausend Jahre später lag er immer noch da auf seinem Bett, das Ayn Rand-Buch und den Brief an Esso auf der Brust, und hörte ihnen dabei zu, wie sie ihm seine Sünden vorlasen. Sie waren jetzt bei der ersten Klasse angelangt, und er war damals gerade sechs Jahre alt gewesen.
Zehntausend Jahre später hatten sie die sechste Klasse erreicht.
Das Jahr, in dem er die Masturbation entdeckt hatte.
Er schloß die Augen, aber trotzdem konnte er immer
noch das vieläugige, zweieinhalb Meter große Wesen mit der endlosen Schriftrolle sehen, das las und las und las…
»Und als nächstes –«, sagte es gerade.
Charles Freck dachte: Wenigstens war der Wein gut.
326
XII
Zwei Tage später beobachtete Fred verwirrt auf dem
Schirm von Holo-Kamera Drei, wie sein Objekt offen-
sichtlich nach Zufallskriterien ein Buch aus dem Bücherschrank im Wohnzimmer seines Hauses nahm. Ein Ver-
steck für Dope? fragte Fred und zoomte mit der Kamera-linse näher heran. Oder hatte er sich in diesem Band vielleicht eine Telefonnummer oder eine Adresse notiert? Er konnte auf den ersten Blick sehen, daß Arctor das Buch nicht hervorgeholt hatte, um darin zu lesen; Arctor hatte gerade eben erst das Haus betreten und trug immer noch seinen Mantel. Eine eigentümliche Aura umgab ihn; er wirkte gleichzeitig angespannt und ausgelaugt. Als stehe er unter emotionaler Hochspannung und sei doch zugleich völlig abgestumpft.
Die Zoom-Linse zeigte, daß sich auf der von Arctor
aufgeschlagenen Seite ein Farbfoto eines Mannes befand, der an der rechten Brustwarze einer Frau knabberte; beide Individuen waren nackt. Die Frau hatte offensichtlich gerade einen Orgasmus; ihre Augen hatten sich halb geschlossen, und ihr Mund klaffte in einem unhörbaren Stöhnen offen. Vielleicht benutzt Arctor das dazu, um sich aufzugeilen, dachte Fred, während er zuschaute. Aber Arctor schenkte dem Bild keine große Aufmerksamkeit; statt dessen rezitierte er zu Freds Verblüffung mit knarrender Stimme einen höchst merkwürdigen Text, teilweise in Deutsch, offenbar, um jeden zu verwirren, der ihn zufällig belauschen sollte. Vielleicht nahm er an, daß 327
seine Mitbewohner irgendwo im Haus waren, und wollte sie auf diese Weise ins Wohnzimmer locken, mutmaßte Fred.
Aber niemand tauchte auf. Luckman – das wußte Fred, weil er sich schon längere Zeit vor den Schirmen aufhielt
– hatte sich stereo mit einer Handvoll Reds und einer Ladung Substanz T vollgepumpt und war, noch immer
vollständig angezogen, in seinem Schlafzimmer bewußtlos geworden, nur ein paar Schritte von seinem Bett entfernt. Barris war überhaupt nicht zu Hause.
Was macht Arctor da bloß? fragte sich Fred und no-
tierte sich die Kennziffern dieser Bandabschnitte. Er wird immer seltsamer. Jetzt verstehe ich erst, was der Informant, der wegen Arctor anrief, gemeint hat.
Oder, überlegte er, könnten die Sätze, die Arctor laut ausgesprochen hat, der akustische Auslöser für irgendeine elektronische Apparatur sein, die er im Haus installiert hat? An oder aus. Vielleicht erzeugt diese Apparatur sogar ein Interferenzfeld, das die Funktion der Abtastkameras stört … und damit unsere Überwachungstätigkeit.
Aber er zweifelte daran. Zweifelte daran, daß Arctors Handlungsweise überhaupt verstandesmäßig erklärbar
war oder
Weitere Kostenlose Bücher