Der dunkle Schirm
weggenickt und hatte vor sich hin zu murmeln begonnen, wie es bei Fixern manchmal nachts um diese Zeit vorkam. »Ach, Scheiße –
Zähne sind Zähne. Ich putze sie mir …« Ihre Stimme war so leise geworden, daß er ihre nächsten Worte nicht mehr hören konnte, obwohl er an der Bewegung ihrer Lippen erkennen konnte, daß sie weiter vor sich hin brabbelte.
»Weißt du, wo das Badezimmer ist?«
»Was für ein Badezimmer?«
»Das hier im Haus.«
Sie riß sich mühsam zusammen und begann wieder,
sich mit mechanischen Bewegungen zu kämmen. »Was
sind das für Typen, die da draußen rumhängen? Sich
Joints drehen und immer weiterquatschen, obwohl’s
schon so spät ist? Ich nehme an, die wohnen hier bei dir.
Klar wohnen die hier. Wo sollten Typen wie die auch sonst wohnen?«
»Zwei davon jedenfalls«, sagte Arctor.
Ihre Augen, die an die eines toten Kabeljaus erinnerten, wandten sich ihm zu und starrten ihn an. »Bist du 276
schwul?« fragte Connie.
»Ich kämpfe dagegen an, so gut ich kann. Genau des-
halb bist du ja heute nacht hier.«
»Dann wird das wohl eine ziemlich heiße Schlacht
werden, was?«
»Worauf du Gift nehmen kannst.«
Connie nickte. »Schätze, ich werd’s wohl gleich rausfinden. Wenn du ein latenter Schwuler bist, wirst du’s vielleicht mögen, wenn ich die Initiative übernehmen.
Leg dich hin, und ich besorg’s dir. Soll ich dich ausziehen? Okay, du liegst einfach nur da, und ich mach’ alles.« Sie griff nach dem Reißverschluß seiner Hose.
*
Später döste er im Halbdunkel vor sich hin, schläfrig vom Abdrücken seiner eigenen Fixe, wenn man das so
nennen konnte. Connie schnarchte neben ihm vor sich hin. Die lag auf dem Rücken, die Arme beiderseits ihres Körpers auf der Decke. Er konnte sie nur verschwommen erkennen. Sie schlafen wie Graf Dracula, dachte er, diese Junkies. Starren unverwandt immer nur nach oben, bis sie sich urplötzlich aufrichten, wie eine Maschine, die von Position A auf Position B umgeschaltet wird. »Es –
muß – schon – Tag – sein«, sagt der Junkie. Oder jedenfalls das Tonband in seinem Kopf, das ihm seine Anwei-sungen vorspielt. Der Geist eines Junkies ist wie die Musik, die du aus dem Radiowecker hörst … manchmal
klingt sie ja hübsch, aber sie ist nur dazu da, dich zu etwas ganz Bestimmtem zu veranlassen. Die Musik aus
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dem Radiowecker soll dich aufwecken; die Musik des
Junkies soll dich in ein Werkzeug zur Beschaffung von immer mehr Stoff verwandeln, ein Werkzeug, das der
Junkie so einsetzt, wie es ihm nützt. Er, der selber eine Maschine ist, wird dich in seine Maschine verwandeln.
Jeder Junkie, dachte er, ist eine Bandaufnahme.
Wieder döste er vor sich hin und sann dabei über diese häßlichen Dinge nach. Und wenn der Junkie eine Puppe ist, dann hat er schließlich nichts zu verkaufen als seinen Körper. Wie Connie, dachte er; Connie, die hier neben mir liegt.
Er öffnete seine Augen und drehte sich zu dem Mäd-
chen neben sich um – und sah Donna Hawthorne.
Mit einem Ruck setzte er sich im Bett auf. Donna!
dachte er. Er konnte ihr Gesicht deutlich erkennen. Ein Irrtum war unmöglich. Herr im Himmel! dachte er und tastete nach der Lampe auf dem Nachttisch. Seine Finger stießen dagegen; die Lampe kippte um und fiel zu Boden.
Das Mädchen merkte nichts davon, sondern schlief ruhig weiter. Immer noch starrte er sie an, und dann, ganz allmählich, sah er wieder Connie, sah ihr scharfgeschnittenes, kantiges Gesicht mit den eingefallenen Wangen, das hagere, düstere Gesicht eines völlig ausgemergelten Junkies – Connie und nicht Donnas; das eine Mädchen und nicht das andere.
Niedergeschlagen ließ er sich wieder zurücksinken,
dämmerte wieder ein bißchen weg und fragte sich, was das wohl bedeuten mochte, wieder und wieder, bis sich seine Gedanken in der Dunkelheit verloren.
»Ich hab’ mir nie was draus gemacht, daß er gestun-
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ken hat«, murmelte das Mädchen neben ihm irgendwann später verträumt im Schlaf. »Ich habe ihn trotzdem geliebt.«
Er fragte sich, wen sie damit meinte. Ihren ersten
Freund? Ihren Vater? Ein heißgeliebtes Spielzeugtier aus ihren Kindertagen? Vielleicht sie alle, dachte er. Aber die Worte hatten »Ich habe ihn geliebt« gelautet, nicht »Ich liebe ihn«. Offenbar gab es diesen Er, wer oder was auch immer er gewesen sein mochte, jetzt nicht mehr. Vielleicht, überlegte Arctor, haben sie (wer immer sie sein mochten) Connie dazu gezwungen, ihn rauszuwerfen,
weil er so
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