Der dunkle Spiegel
Überlegungen nun schon so weit gekommen seid – habt Ihr einen Verdacht, wer ihm den Tod gewünscht hat? Oder auf welche Weise dieser Tod herbeigeführt wurde?«
»Nein, Pater, den habe ich nicht. Mich plagt nur die furchtbare Angst, man könnte es mir oder meinen Schwestern anhängen. Denn es liegt sehr nahe, dass Gift dabei eine Rolle gespielt hat.«
»Wer sollte Euch verdächtigen?«
»De Lipa beispielsweise.«
»Ich muss sowieso mit ihm reden.«
»Er ist bis zum Ende der Woche auf seinem Weingut, heißt es.«
»Nun, dann rede ich mit ihm, wenn er zurück ist. Eure Freundin ist mit ihren Pflichten fertig und schaut nach Euch.«
»Oh, Clara habe ich ganz vergessen.« Almut wollte auf sie zugehen, doch Pater Ivos Worte hielten sie erneut auf.
»Und Euren Korb auch. Hier ist er, gut behütet von der Jungfrau. Geht mit Gott, Begine, und wenn Euch noch ein paar kluge Fragen einfallen, dann gebt mir Nachricht.«
»Wie finde ich Euch?«
»Gebt dem Pförtner im Kloster eine Nachricht. Oder kommt zu Sankt Machabäer. Ich arbeite morgens bis zur Sext dort in unserem Weingarten.«
Almut nahm den schweren Korb auf und neigte den Kopf, dann schloss sie sich Clara an.
Der Nieselregen hatte etwas nachgelassen, und ein schmaler Sonnenstrahl durchbrach sogar das dunkle Gewölk, als die beiden Beginen sich ihrem Heim näherten. Sie befanden sich schon hinter dem Dom, als ihnen ein Mann entgegenkam. Er trug, entgegen der neuesten Mode, nicht das kurze wattierte Wams und auch ansonsten keines der zierenden Attribute, die den eleganten Bürger ausmachten, dennoch beeindruckte er durch seine Erscheinung. Seine knielange Heuke mit geschlitzten Ärmeln überraschte durch ihre ungewöhnliche Farbe, denn sie war schwarz und nur sparsam mit silbernen Stickereien verziert. Schwarz glänzten auch die schulterlangen Locken, die der Sonnenstrahl aufschimmern ließ. Er trug weder Kopfbedeckung noch Bart, was ihn ebenfalls vom üblichen Erscheinungsbild junger Männer unterschied. Er hatte einen dunklen Teint, war groß gewachsen und bewegte sich mit der geschmeidigen Anmut eines schwarzen Katers auf der Jagd. Als er an Clara und Almut vorüberging, neigte er höflich grüßend das Haupt.
Clara sog leise die Luft ein.
»Fidüdjövivant!«, murmelte Almut.
»Der Sohn des lebenden Gottes – nicht gerade er selbst, obwohl Rigmundis dir Recht geben würde. Hast du schon mal ein derart schönes Mannsbild gesehen, Almut?«
»Nein, nicht in dieser Welt.«
»Und was das Erstaunlichste daran ist, von genau diesem Mann hat uns Rigmundis gestern Abend noch berichtet. Du bist ja nach dem Gewitter gleich in deine Kammer gegangen, aber wir blieben noch eine Weile beisammen, denn unsere Seherin wurde wieder von einer Vision heimgesucht.«
»Ja, solche Wetterlagen begünstigen das bei ihr. Hat sie wieder Katastrophen vorhergesehen?«
»Nein, diesmal war es schiere Verzückung. Es war ihre Seele, die sie nackt in ihrem minniglichen Bette beschrieb.«
»Oh?«
»Ja, und – eia! – es erschien ihr der Herr, der Geliebte ihrer Seele, der wohlgezierte Gott.«
»Auch nackt?«, kicherte Almut.
»Das verriet sie uns nicht, aber sie schilderte ihn mit folgenden Worten: ›Seine Haare sind kraus, schwarz wie ein Rabe. Seine Augen sind wie Tauben an den Wasserbächen. Sie baden in Milch und sitzen an reichen Wassern. Seine Wangen sind wie Balsambeete, in denen Gewürzkräuter wachsen, seine Lippen sind wie Lilien, die von fließender Myrrhe triefen.‹«
»Eia? Woher nimmt sie das nur?«
»Das frage ich mich auch. Seltsam nur, dass sie damit einen Bibeltext sprach, den ich kürzlich zu übersetzen begonnen habe. Aus dem Hohen Lied Salomos.«
»Vielleicht liest sie deine Pergamente heimlich.«
»Das wäre mir aber nicht sehr recht. Jedenfalls hat sie uns in ihrer mystischen Versenkung mit leuchtenden Augen eine recht gute Beschreibung des Mannes gegeben, der uns soeben begegnet ist, findest du nicht auch? Ich bin gespannt, im Leben welcher beneidenswerten unter unseren Schwestern er eine Rolle spielen wird. Rigmundis hat nämlich durchaus die Gabe der Zukunftsschau, das muss man ihr zugestehen.«
»In meinem nicht, Clara! Vielleicht bist du die Glückliche?«
Clara, mit ihren siebenunddreißig Jahren durchaus noch recht ansehnlich, schüttelte den Kopf. Auch sie hatte ihre Gründe, ein zurückgezogenes Leben zu führen.
»Ich genieße solch schöne Männer lieber aus der Entfernung.«
»Gab es außer der Erscheinung noch irgendwelche
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