Der dunkle Spiegel
Lager gegangen ist. Es muss furchtbar wichtig für ihn gewesen sein! Vielleicht hat ihm jemand gedroht? Oder etwas versprochen? Aber wie soll ich das herausfinden? Aber es muss möglich sein, denn über gepantschten Wein hört man bestimmt etwas in den Schenken und Gasthäusern oder auch in den Badehäusern. Mist, Maria, solche Stätten kann ich heute nicht mehr so einfach aufsuchen. Eine Begine in der öffentlichen Badestube – Magda würde mich sofort aus dem Konvent ausschließen. Ich brauche Freunde und Helfer. Doch sag mir, Maria, wo soll ich die finden?«
Hoffnungsvoll sah Almut die kleine Statue an. Sehr aufrecht saß Maria auf ihrem Thron, und der runde, von zwei aufsteigenden Hörnern gehaltene Heiligenschein, der hoch über dem nach ungewöhnlicher Manier gebundenen Schleier schwebte, glänzte wie ein Spiegel. Das Gesicht darunter verschwamm vor Almuts Augen, nicht viel, nur ein ganz kleines bisschen. Aber es reichte, um lebendig zu werden, und mit einem Mal überkam Almut ein Gefühl ungeheurer Heiterkeit.
»Danke, Maria, danke. Natürlich, Aziza, die maurische Hure. Sie schuldet mir noch einen Gefallen. O gütige, o milde, o süße Jungfrau Maria, ich danke dir für den Hinweis auf die maurische Hure!«
Almuts Augen funkelten, als sie aufstand und im Raum umherging. Zu viel gab es zu bedenken und zu planen, jetzt, wo sich ihr ein Weg gezeigt hatte. Sie war so unruhig, dass ihr die kleine Kammer zu eng wurde, und so ging sie noch einmal leise die Holzstiege nach unten, um sich im Hof Bewegung zu verschaffen.
Mondlicht erleuchtete das freie Rechteck innerhalb der Häuser und malte silberne Ränder auf die letzten sich westwärts bewegenden Wolken. In Gedanken versunken umrundete Almut das innere Geviert, vorbei am jetzt fest verschlossenen Tor, an Gertruds Backofen und dem Küchentrakt, am überdachten Brunnen, dessen Schöpfeimer sorgfältig auf dem Rand abgestellt worden war, passierte das Haupthaus und stand vor dem inzwischen wieder ordentlich bepflanzten Kräuterbeet. Doch vielfältige Düfte von geknickten Rispen und Stengeln, von zerquetschten Blüten und Blättern lagen noch in der Luft. Eine kleine, kaum erkennbare Bewegung in dem Beet ließ Almut in ihrer Wanderung innehalten. Sie sah genauer hin und entdeckte ein zusammengesunkenes Bündel Mensch inmitten der Gewächse. Vorsichtig trat sie auf die frisch aufgeworfene Erde und erkannte ein lehmverschmiertes Kind der Erde, das sanft über die haarigen Stiele und die seidigen Blüten einer Mohnpflanze strich. Eine Elfe, ein kleiner Kobold, der die geschändeten Kräuter heilt, dachte sie im ersten Moment, doch dann erkannte sie Trine, die selbstvergessen Blätter streichelte. Vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, berührte sie die Schulter des Mädchens. Ohne Furcht zu zeigen, sah Trine auf und lächelte. Mit der Zeichensprache, die sie sich inzwischen angewöhnt hatten, gab Almut ihr zu verstehen, dass sie schon lange schlafen sollte. Aber Trine schüttelte heftig den Kopf und wies auf das Haus der Apothekerin. Almut verstand. Elsas heftiger Ausbruch hatte das taubstumme Kind verwirrt, und sie ängstigte sich, ihr Lager aufzusuchen. Sie fasste die Begine an der Hand und hielt sie fest.
»Du willst mir etwas sagen, Trine, nicht wahr?«
Wieder flatterten Trines erdverkrustete Finger, und Almut bemühte sich, den Sinn ihrer Botschaft zu entschlüsseln.
»Der Mann in dem langen Gewand? Ja, das meinst du. Welcher Mann? Der betet. Ah, der Dominikaner, der Inquisitor. Der hatte was mit seinem Mund? Oh? Nase? Nein.«
Trine strich sich mit einem Pfefferminzblättchen über die Nase und machte ein verzücktes Gesicht. Dann machte sie die Geste, die Mann für sie bedeutete, und hielt sich angewidert die Nase zu.
»Der Inquisitor riecht schlecht aus dem Mund«, erkannte Almut, und diese Erkenntnis erheiterte sie plötzlich dermaßen, dass sie lachen musste. »Ein unangenehmer Mensch, in jeder Form. Da hast du Recht, Trine. Komm, wir gehen dich jetzt am Brunnen waschen, du kleines Ferkel, und dann holen wir ein paar Decken. Du schläfst heute Nacht bei mir!«
Trine ließ sich willig führen und fand bald ein Lager auf dem Boden von Almuts Kammer. Bevor sie sich in die Decken kuschelte, legte auch sie noch ein paar Kamillenblüten vor die Marienstatue. Ihr Duft füllte das ganze Zimmer, und Almut schien es, als ob sie intensiver dufteten als alle Blüten, die sie je gerochen hatte.
12. Kapitel
Am Morgen war Almut schon sehr früh auf den Beinen.
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