Der dunkle Spiegel
Barmherzigkeit gegen die Gebrechlichen und Schwachen gehört? Dieses Kind hier mag taub und stumm sein, aber es ist allemal mehr Mensch, als Ihr es seid! Es ist ein unschuldiges Geschöpf Gottes, es fühlt und leidet wie jeder andere.«
Almut bebte vor Wut, und als der Inquisitor kalt erwiderte: »Dann trinkt Ihr!«, nickte sie nur.
»Ich werde den Inhalt dieser Flasche trinken. Und sollte sich ein Gift darin befinden, so werden alle Anwesenden Euch des Mordes bezichtigen, Bruder Johannes. Auch Ihr, Hermann de Lipa, und Ihr, Frau Dietke, werdet Euch dafür verantworten müssen, wenn ich dadurch zu Tode komme!«
Dietke schaute erschrocken auf, als sie ihren Namen hörte. Sie wirkte noch immer verstört und blass. Eindringlich sah sie Almut an. Irgendetwas schien sie sagen zu wollen, schluckte dann jedoch nur und senkte wieder den Blick.
»Ich bitte Euch, Meisterin, schickt Nachricht an meine Eltern. Und vielleicht könnt Ihr auch Pater Ivo bitten, herzukommen«, sagte Almut, die sich plötzlich der Gefahr bewusst wurde, die sie eingehen würde.
Magda rief die Mägde herein und gab ihnen kurze Anweisungen. Mit großen Augen eilten die drei davon.
»Nicht nur deine Angehörigen und den Pater werden sie verständigen, Almut, auch meinen Bruder will ich benachrichtigen. Es soll an einflussreichen Zeugen nicht mangeln.«
»Weder von der Harmlosigkeit des Mittels noch von der Unschuld dieser Frau scheint Ihr jetzt noch überzeugt zu sein«, stellte Bruder Johannes mit Genugtuung fest. »Ich denke, Begine, Ihr werdet jetzt mit mir beten wollen.«
»Den Teufel werde ich tun, Bruder Johannes. Lieber schmore ich für Ewigkeiten in der Hölle, als in Eurer Gemeinschaft zu Gott und der heiligen Jungfrau zu sprechen.«
»Ihr flucht, gottverlorene Sünderin! Selbst in Eurer letzten Stunde noch!«
»Ich mag eine Sünderin sein, denn wer ist schon ohne Sünde. Aber ich bin nicht gottverloren, und ich bin unschuldig am Tod des Jungen. Und nun lasst mich alleine!«
Almut verließ die Versammlung und eilte in ihre Kammer. Dort ließ sie sich vor der Marienstatue auf die Knie fallen und betete.
15. Kapitel
Sub tuum praesidium confugimus, sancta Dei genetrix… Unter deinen Schutz und Schirm fliehen wir, o heilige Gottesgebärerin; verschmähe nicht unser Gebet in unseren Nöten«, flehte sie, und die Tränen liefen ihr über die Wangen. »Was habe ich getan, heilige Mutter, dass ich so gestraft werde? Ich habe doch nur das Kind verteidigen wollen. Ich konnte doch nicht zulassen, dass Trine zum Opfer dieses Fanatikers wird. Aber wenn Gift in der Flasche ist, so werde jetzt ich sterben. Barmherzige Jungfrau, schütze mich. Ich will noch nicht sterben.«
Ihr versagte die Stimme, und schluchzend lag sie, die Hände vor das Gesicht geschlagen, auf dem Boden. Es gab keine Gedanken mehr, die sie in Worte fassen konnte, es gab nur noch Angst und Elend. Sie wusste, es gab keinen Ausweg für sie. Vielleicht sollte sie fliehen, aber wohin hätte sie sich wenden können, ohne andere in Gefahr zu bringen? Ihre Flucht wäre für den Inquisitor nur ein weiterer Grund, sie zu verfolgen. Er hatte das Ergebnis der Bahrprobe nicht anerkannt, er würde sie weiter in seinen verdrehten Gedankengängen für schuldig befinden. In der tiefsten Verzweiflung versiegten sogar Almuts Tränen, und trockenen Auges blickte sie zu der Bronzestatue empor.
»Himmlische Königin, gebenedeite Jungfrau, erste Mutter, ich bin in größter Not. Hilf mir, Maria!«
Das ruhige, sanfte Gesicht unter dem seltsamen Heiligenschein zwischen den Hörnern, der jetzt ein strahlendes Kreuz trug, zeigte keine Regung. Doch Almut erinnerte sich plötzlich an ihren andern, den alten Namen und flüsterte tonlos: »Isis! Hilf mir.«
Dann legte sie wieder den Kopf auf die Hände und überließ sich dem Zittern, das sie gepackt hielt. Und da tauchte eine Erinnerung vor ihrem inneren Auge auf. Eine blau gewandete Gestalt erschien ihr, die ihr ermutigend zurief: »Kopf hoch, Schwester!«
Das Zittern ließ nach, und langsam kam Almut auf die Knie. Sie hob den Kopf und sah aus dem Fenster. Die Wolkendecke, die den ganzen Tag die Sonne verhüllt hatte, war aufgerissen. Ein gleißender Sonnenstrahl fiel durch das Fenster und ließ Staubteilchen wie Goldflimmer in der Luft tanzen. Die Mariengestalt hob sich schwarz und scharf konturiert vor dem hellen Licht ab.
»Es kann auch sein, dass Jean auf andere Weise vergiftet worden ist. Dann ist die Arznei wahrhaftig harmlos. Ja – die
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