Der dunkle Thron
sehnte sich nach ein bisschen Schatten. Er trug dunkle, betont gedeckte Kleidung – wie immer, wenn er an den Hof zitiert wurde –, Hosen, Schaube und Barett aus schwarzem Samt, sodass man ihn beinah für einen Priester oder Schulmeister hätte halten können, wäre die schwere Goldkette mit dem Waringham-Einhorn auf Brust und Schultern nicht gewesen. Ihm war zu warm, und wie üblich war ihm in dieser Umgebung nicht wohl in seiner Haut.
Als Boleyn ihm einladend seinen Becher hinhielt, schüttelte er dennoch den Kopf und reichte den kostbaren Pokal weiter an Jerome. Er hatte nichts gegen George Boleyn, im Gegenteil. Der Mann mochte ein gewissenloser Schürzenjäger sein, aber er war arglos und hatte – ganz anders als seine Schwester – keinen politischen Ehrgeiz. Darum erschien er Nick ungefährlicher als die meisten anderen Höflinge. Aber einen Becher wollte er trotzdem nicht mit ihm teilen. Keine Vertraulichkeiten , schärfte er sich regelmäßig ein, wenn er an den Hof kam. Bleib auf Distanz, so weit du kannst. Verhalte dich unauffällig, und wenn du Glück hast, kommst du ungeschoren zurück nach Hause …
Das Schauspiel endete, die Darsteller nahmen die Masken ab, und das Publikum machte »Ah« und »Oh« und heuchelte Verwunderung über die Gesichter, die zum Vorschein kamen, dabei hatte es sie in Wahrheit doch längst erkannt. Manchmal erschien es Nick, als beruhe hier alles auf Lug und Trug. Den meisten Beifall und das vorgeblich größte Erstaunen erntete der König, der sich – oh, welche Überraschung – hinter der Maske des Heldenmuts verborgen hatte.
Lachend riss er sich den Hut vom Kopf und machte eine kleine Verbeugung. »Wie war ich, Charles?«, brüllte er zu Suffolk hinüber, der in der ersten Reihe gesessen hatte.
»Schauderhaft, Majestät«, antwortete sein Freund mit einem nachsichtigen Lächeln. »Ich bin geneigt zu sagen, ich habe Euch noch nie so schlecht spielen sehen. Ihr habt die Hälfte Eurer Verse vergessen. Aber ich glaube, jeder hat heute Verständnis dafür.«
Henry hatte ihm mit versteinerter Miene gelauscht, aber dann brach er abrupt in dröhnendes Gelächter aus. »Wohl wahr, wohl wahr! Was gibt es Neues?«
Suffolk schüttelte den Kopf. »Noch nichts.«
Die Königin lag seit dem frühen Morgen in den Wehen.
Henry wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht, warf Suffolk einen Arm um die Schultern und führte ihn Richtung Halle.
Das Publikum erhob sich, die jungen Kavaliere halfen den Damen von der Bühne, und Diener begannen, die Masken und Requisiten einzusammeln.
»Meine arme Schwester«, sagte Boleyn kopfschüttelnd. »Es muss doch langsam mal so weit sein?«
»Ein saumseliger kleiner Prinz …«, sagte seine Gemahlin lachend, die plötzlich wie aus dem Boden gestampft an seiner Seite erschienen war und sich bei ihm einhängte. »Waren die Musiker nicht wundervoll?«
»Kann sein«, gab er achselzuckend zurück, und Nick kam es vor, als müsse Boleyn sich mit einem bewussten Willensakt daran hindern, sich von ihr loszureißen.
»Ich fand sie auch großartig, Lady Rochford«, bemerkte er.
Scheu wie eh und je, warf sie ihm nur einen kurzen Blick zu, aber sie lächelte. »Wenigstens ein Mann mit Sinn für Kunst unter all diesen Banausen …«
»Oh, Ihr solltet mich nicht überschätzen«, wehrte Nick ab. »Ich verstehe nichts davon, anders als meine Schwester. Aber es hat mir gefallen.«
»Ich kenne Eure Schwester«, eröffnete sie ihm unerwartet. »Sie ist mit Master Philipp Durham verheiratet, richtig?«
Nick fiel aus allen Wolken. »Woher kennt Ihr sie?«
»Wir standen zufällig nebeneinander, als Erzbischof Cranmer vorletzte Woche an Paul’s Cross gepredigt hat, und wir kamen ins Gespräch. So eine gescheite Frau, Mylord, und so gebildet. Sie sagte, es werde höchste Zeit, dass eine englische Übersetzung der Bibel …« Ihr Redefluss versiegte abrupt, und die kleine Gruppe hielt an.
Eine junge Frau kam mit eiligen Schritten aus einer Seitentür des Palastes, die zu den Gemächern der Königin führte. Als sie den König mit seinem gesamten Hof im Schlepptau auf sich zukommen sah, schien sie einen Moment zu zaudern, schritt dann aber eilig auf ihn zu. Sie hielt den Kopf gesenkt, aber Nick erkannte seine Stiefschwester ohne Mühe.
Vor dem König hielt sie an, knickste tief und sagte etwas.
»Was?«, hörten sie Henry brüllen, und er packte Louise bei den Schultern und rüttelte sie. Nick fing an zu hoffen, er werde ihr das Genick
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