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Der dunkle Thron

Der dunkle Thron

Titel: Der dunkle Thron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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verabscheut, die jetzt ihre Schwägerin und Königin war.
    »Nun, Ihr mögt es Unverblümtheit nennen, Madam, ich ziehe Aufrichtigkeit vor«, entgegnete Anne Boleyn. »Mir will scheinen, sie ist eine Tugend, die bei Hofe nicht hoch genug geschätzt und nicht ausreichend gepflegt wird. Das gedenke ich zu ändern.«
    Lady Mary nickte säuerlich. »Ich könnte mir vorstellen, dass Taktlosigkeit unter Eurer Herrschaft zu einer höfischen Mode wird.«
    »Mary …«, knurrte der König drohend.
    Seine Schwester warf ihm mit hochgezogenen Brauen einen Blick zu – nicht im Mindesten eingeschüchtert. Nick beobachtete, wie Suffolk ihr verstohlen die Hand aufs Knie legte. Ebenso diskret schob sie die Hand weg.
    »Was denkt Ihr, Lord Waringham?«, fragte die Königin. »Ist es nicht an der Zeit, mit all den schmeichlerischen höfischen Lügen aufzuräumen und uns auf Ehrlichkeit zu besinnen, die Gott gefällig ist?«
    Nicks Kiefermuskeln waren auf einen Schlag wie versteinert, und er wusste, er war kreidebleich geworden. Er sah dem König in die Augen – länger, als sich gehörte –, dann verneigte er sich vor der Königin. »Ich gebe Euch völlig recht, Majestät. Es gibt nicht mehr viele Männer in England, deren herausragende Eigenschaft Aufrichtigkeit wäre. Man fragt sich, wohin sie alle entschwunden sind.«
    Anne öffnete den Mund, als wolle sie etwas erwidern, dann zögerte sie und warf dem König einen prüfenden Blick zu.
    Henry hatte die Lider halb geschlossen. Seine Mundwinkel zuckten, als sei er amüsiert. Er entließ Nick mit einer eleganten Geste seiner beringten Hand. »Wir erwarten, dass Ihr diese beklagenswerte Lücke füllt, Nicholas. So wie die Waringham es immer getan haben.«
    »Darauf kann er lange warten«, grollte Nick, nachdem er seinen Bericht beendet hatte.
    Es war einen Moment still am Tisch. Laura und Philipp wechselten einen Blick. John und Jerome taten das Gleiche. Nick ignorierte alle vier, stand auf und trat an das Fenster der behaglichen kleinen Halle seines Londoner Stadthauses. Die Abendsonne ließ die strohgedeckten Dächer der Pächterhäuser golden leuchten. Ansonsten lag der Hof schon im Schatten. Doch die frühsommerliche Hitze war nicht gewichen, und die üblen Gerüche von Stadt und Fluss waberten zum Fenster herein.
    »Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte Philipp schließlich.
    Weil Nick nicht antwortete, erklärte Jerome: »Morgen zieht sie in feierlicher Prozession von London nach Westminster, und ich sage euch, so was hat die Welt noch nicht gesehen: Die Häuser entlang der Straßen werden mit Goldbrokat und anderen kostbaren Tuchen geschmückt sein. An jeder Kreuzung werden musikalische Vorführungen dargeboten, die die Königin mit Penelope, Helena oder der heiligen Anna gleichsetzen. In Cheapside gibt es ein Schauspiel, welches die Wahl des Paris darstellt, aber nicht Aphrodite, sondern Königin Anne wird den goldenen Apfel bekommen. Und Wein wird durch die Londoner Wasserleitung fließen. Dann am Sonntag die Krönung in der Abtei zu Westminster …«
    »… die diese ungeheuerliche Farce zu einer unumstößlichen Tatsache machen wird«, fiel Nick ihm bitter ins Wort. »Sonntag wird aus der königlichen Hure eine gesalbte Königin. Das ist nicht nur ein heiliger Ritus, sondern auch ein politischer Akt, der sich nicht rückgängig machen lässt. Und bis der Papst Cranmers Urteil bestätigt und die Ehe des Königs mit Catalina von Aragon für nichtig erklärt – falls er das denn überhaupt tut –, werden wir zwei gesalbte Königinnen haben. Wir können uns wirklich glücklich preisen ob unseres Reichtums an gekrönten Häuptern …«
    »Nick, du musst damit aufhören«, sagte Laura streng. »Wenn man dich hört, könnte man meinen, Catalina sei eine Heilige und Königin Anne die personifizierte Bosheit. Aber so einfach ist es nicht. Catalina wird keine Kinder mehr bekommen, das ist uns wohl allen klar. Aber der König braucht einen männlichen Erben. Sein Vater hat einen schrecklichen dreißigjährigen Thronfolgekrieg beendet, und Henry graut davor, dass dieser Krieg wieder losbrechen könnte, wenn er keinen unanfechtbaren Nachfolger hinterlässt. Er handelt also nicht aus purer Selbstsucht, ganz gleich, was du denkst. Und das ist nicht das einzige: Catalina lebt in der Vergangenheit. Anne Boleyn denkt an die Zukunft. Und sie hat keine Furcht vor neuen Ideen.«
    »Oh, Laura. Ich kann nicht glauben, dass du dir diese Sache schönredest, weil Anne Boleyn angeblich

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