Der dunkle Thron
sich.
Der Schnee reichte ihnen bis an die Knöchel und machte einen Spaziergang durch die Gartenanlagen mühsam, aber Mary hatte darauf bestanden. Sie ging zügig, wie es ihre Art war, und trotz des scharfen Winds, der über Essex fegte, hatten ihre Wangen sich ein wenig gerötet. Lady Margaret Pole, die sie wie üblich begleitete, hatte ihre Proteste vor einer Weile eingestellt, weil sie vollauf damit beschäftigt war, Atem zu schöpfen.
Auch die Prinzessin und Nick gingen ein Stück schweigend. Heutzutage schwiegen sie oft, denn Mary war nicht mehr so redselig wie früher, und häufig fand Nick sie in melancholischer Stimmung, wenn er herkam. Das war weiß Gott kein Wunder, fand er. Sie war einsam, von ihrem Vater vergessen, abgeschnitten von ihrer Mutter und fast allen Freunden. Aber ihr Kampfgeist und Trotz waren ungebrochen, und dafür bewunderte er sie.
»Habt Ihr … irgendetwas von Mutter gehört?«, fragte sie.
»Ich habe sie sogar gesehen«, antwortete er.
Marys Kopf fuhr herum, und ihre Augen leuchteten. »Ihr wart dort? Oh, Mylord, wie gut von Euch! Wie geht es ihr?«
»Genauso wie Euch, Hoheit«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Sie ist einsam und vielleicht auch manchmal verbittert, aber sie lässt sich nicht unterkriegen. Natürlich wollte sie mir einen Brief für Euch mitgeben, aber Ihr wisst ja.« Jeder Besucher, der kein Mitglied des Kronrats war und zu Catalina oder Mary wollte, musste sich einer Untersuchung durch die Wachen unterziehen, die an Erniedrigung grenzte. Der Kommandant der Wache stand in Norfolks Diensten, und deswegen raubte es ihm nicht den Schlaf, wenn seine Männer den Earl of Waringham beim Abtasten an Stellen berührten, wo einfach keine Männerhände hingehörten. »Sie hat mir aufgetragen, Euch zu versichern, dass sie sich bester Gesundheit erfreut und Kraft in der Liebe Gottes finde. Sie arbeite an einer großen Stickerei, die den Fall von Granada darstellt, und das mache ihr viel Freude. Ich habe die Arbeit übrigens gesehen, sie wird großartig. Und Eure Mutter legt Euch ans Herz, die Apostelgeschichte zu lesen, wenn der Mut Euch zu verlassen droht.«
Mary hing an seinen Lippen. Als er verstummte, ließ sie ihn nicht aus den Augen und fragte: »Und was ist mit den Dingen, die sie mir nicht ausrichten lässt? Hat sie genug Gefolge und einen vertrauenswürdigen Beichtvater? Hat sie … genügend Trost?«
Nick wusste es nicht. Doch er nickte. »Sie ist eine starke Frau, genau wie Ihr. Und genau wie in Eurem Fall wächst ihre Kraft mit den Widrigkeiten, denen sie sich ausgesetzt sieht. Also seid beruhigt.«
Mary nickte versonnen, hob den Rock wieder ein wenig und stapfte weiter durch den Schnee. Der Himmel war grau, die Wolken verhießen weitere Schneefälle, und bis auf den Ruf eines Vogels dann und wann war die Welt still, so dass das Knirschen der Schuhe der drei Wanderer im Schnee Nick laut erschien.
Erst als sie hinter einer Baumgruppe am entlegenen Ende der Parkanlage zu einer kleinen Ansammlung von Hütten kamen, erkannte er, dass ihr Spaziergang ein Ziel hatte. »Wer wohnt hier?«, erkundigte er sich.
»Die Gärtner«, erklärte Mary, nahm ihm den verschlossenen Korb ab, den er für sie getragen hatte, klopfte an einer der Hütten und lauschte einen Moment. Eine matte Stimme rief sie herein.
»Ich warte hier draußen, Hoheit«, sagte Lady Margaret mit offenkundiger Missbilligung.
»Gewiss.« Mary lächelte ihr zu – eine Spur zerknirscht, schien es Nick – und führte ihn dann ins dämmrige Innere der kleinen Behausung. »Nathan. Wie geht es dir heute?«, fragte sie zur Begrüßung.
Nicks Augen hatten sich schnell auf das Halbdunkel eingestellt, und er erkannte spärliche, selbst gezimmerte Holzmöbel, schmutzige Krüge und Teller auf dem Tisch, kalte Asche im Herd und einen alten Mann auf einem Strohlager.
»Gott segne Euch, Hoheit«, sagte dieser, und die Augen, die zu ihr aufblickten, waren trüb und voller Ergebenheit, wie die eines betagten Schoßhündchens. »Ich glaube, es geht schon ein wenig besser.«
Die verwahrloste Hütte strahlte eine modrige Kälte aus und stank nach dem ungewaschenen Leib und der Krankheit des Alten. Mary schien das gar nicht zu bemerken. Ohne jedes Zögern, auch ohne Verlegenheit kniete sie sich neben den Kranken auf den nackten Lehmboden und fühlte ihm die Stirn. Dann öffnete sie ihren Korb, förderte einen verschlossenen Krug und einen Becher zutage und schenkte Wein ein. Umsichtig stützte sie den beinah kahlen
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