Der dunkle Thron
zurück und seufzte leise. »Wie sehr er mir fehlt. Beinah so sehr wie meine Mutter.«
Er nickte. »Darf ich mich setzen?«
»Oh, vergebt mir, Mylord.« Sie vollführte eine einladende Geste.
Er setzte sich in gebührlichem Abstand vor ihr auf die nackten Holzdielen, zog die Knie an und schlang die Arme darum.
»Ich habe wieder und wieder den gleichen Traum«, vertraute Mary ihm unerwartet an. »Jede Nacht. Ich bin allein und hilflos in der Finsternis, und vor mir lauert ein Ungeheuer, aber ich kann nicht weglaufen.«
»Was für ein Ungeheuer?«
»Ich weiß nicht. Ein … Mann.«
Vermutlich der König, fuhr es ihm durch den Kopf. Man musste keine prophetischen Träume haben wie manche Frauen in seiner Familie sie früher gehabt hatten, um zu wissen, dass König Henry eine Bedrohung für seine Tochter darstellte. »Ihr fühlt Euch ausgeliefert und machtlos. Der Traum ist ein Spiegel dieser Empfindungen, scheint mir.«
»Ausgeliefert in der Tat«, sagte Mary. »Der Lieblosigkeit meines Vaters, der Rachsucht seiner Hure, der Gehässigkeit ihrer Cousine, Lady Shelton – all dem bin ich ausgeliefert. Es vergeht kaum eine Woche, ohne dass Lady Shelton mir berichtet, wer als neuester Heiratskandidat für mich gehandelt wird. Einer meiner englischen Cousins, die noch ein Tröpfchen Plantagenet-Blut in den Adern haben, wie Lord Montague oder der kleine Courtenay? Oder doch ein Habsburger? Oder der französische Dauphin? Oder irgendein unbedeutender Kammerdiener aus Anne Boleyns Haushalt, wie sie es am liebsten hätte? Und Lady Shelton und die dummen Gänse in diesem Haus reden in einem fort darüber, was Männer mit Frauen tun, wenn sie …« Sie brach ab und biss sich auf die Lippen. »Es ist so anstößig. So widerlich … All die Jahre musste ich es aushalten, dass in jeder Schenke von Canterbury bis York darüber spekuliert wurde, was mein Onkel Arthur und meine Mutter getan oder nicht getan haben, als sie verheiratet waren. Es hat meine arme Mutter so furchtbar gedemütigt, dieses Gerede. Ich habe mir immer gewünscht, ich müsste niemals …« Sie hob die Schultern und schüttelte den Kopf. »Aber ich kann nichts tun, ganz gleich, wie mein Vater entscheidet. Ich habe keine Macht über mein Leben.«
»Die wenigsten Menschen haben in dieser Frage Macht über ihr Leben«, gab Nick zu bedenken. »Töchter und Söhne werden verheiratet, wie es ihre Eltern gut dünkt. Es ist völlig normal und nichts, was man fürchten müsste.«
»Es sei denn, ein Vater verheiratet eine Tochter, um sie zu brechen und ihren Ungehorsam zu bestrafen.«
»Das wird er nicht«, widersprach Nick. »Das kann er sich nicht leisten. Wenn er Euch verheiratet, ist es ein politischer Akt, denn ganz gleich, ob Cromwell und Cranmer und Lady Anne Euch einen Bastard nennen oder nicht, auf dem Kontinent seid Ihr die Enkelin der großen spanischen Majestäten Isabella und Ferdinand, die Cousine des Kaisers und die Tochter des Königs von England. Und seid versichert, das hat Euer Vater nicht vergessen.«
Er war nicht sicher, ob sie ihn gehört hatte. »Wie ich wünschte, er hätte mich empfangen, als er gestern kam.« Ihre Stimme drückte eine solche Sehnsucht aus, dass ihm ganz beklommen zumute wurde. »Ich habe meine Kammerzofe zu Lady Shelton geschickt«, fuhr Mary fort. »Mit der Bitte, Lady Shelton möge den König in meinem Namen um die Gunst einer kurzen Unterredung ersuchen. Aber ich habe nicht einmal eine Antwort bekommen.«
»Was eventuell daran liegen könnte, dass Eure Kammerzofe Anne Boleyns Spionin ist. Jedenfalls glaubt Chapuys das.«
»Lucy?«
»Schsch«, mahnte er.
Mary starrte einen Moment zur Tür. Nick nahm an, dass jenseits davon die besagte Lucy auf einer Strohmatratze schlief, um ihrer Herrin zur Verfügung zu stehen, wann immer die sie brauchte, und sie bei der Gelegenheit rund um die Uhr zu bespitzeln.
»Warum erfahre ich das erst heute?«, fragte die Prinzessin stirnrunzelnd.
»Keine Ahnung. Ich dachte, er hätte es Euch gesagt. Vielleicht hat sein Verdacht sich auch zerstreut. Ich frage ihn, wenn Ihr wollt. Einstweilen kann es nicht schaden, Vorsicht walten zu lassen. Außer Polly solltet Ihr niemandem in diesem Haus trauen.«
»Ja. Ihr habt recht.« Der mutmaßliche Verrat ihrer Zofe schien sie mehr zu ärgern als zu kränken. Aber Prinzessin Mary gehörte wohl auch nicht zu den Damen, die ihren Zofen ihre Geheimnisse anvertrauten. »Habt Ihr etwas von Mutter gehört? Und was sonst berichtet Chapuys? Gibt es
Weitere Kostenlose Bücher