Der dunkle Thron
näher und hielt ihm das belastende Pergament unter die Nase. »Wenn das in falsche Hände fällt, werden Cromwell und Anne Boleyn triumphieren und den König zwingen, seine Tochter hinzurichten.«
»Denkt nur, Sir, das alles ist Mary bewusst. Aber da es so oder so passieren wird, hat sie sich vermutlich gedacht, es mache keinen Unterschied.«
Chapuys atmete hörbar tief durch und tippte mit dem Zeigefinger der freien Linken auf den Brief, als wolle er Löcher hineinbohren. »Ich werde das verbrennen.«
»Bitte. Wenn Ihr meint, dass Ihr so mit ihren Briefen verfahren könnt …«
»Waringham, es ist viel zu gefährlich, so ein Schreiben einem Boten anzuvertrauen und auf den Kontinent zu schicken.«
»Ihr könnt es doch … Wie heißt das? Verschlüsseln? Wie macht man das?«
»Man ersetzt jeden Buchstaben durch einen anderen. Nach einem bestimmten Schlüssel, der bei jedem Schreiben ein anderer ist und der sich aus einem Bibelvers ergibt. Wer nicht weiß, um welchen Vers es sich handelt, kann den Brief nicht entschlüsseln.«
Nick war fasziniert. »Wie genau geht das?«
Chapuys seufzte. »Ihr seid doch wahrhaftig … wissbegierig.«
»Sir Thomas pflegte zu sagen, das sei eine Tugend. Also?«
»Es muss eine Bibelstelle sein, in der alle oder wenigstens fast alle Buchstaben des Alphabets vorkommen. Ihr schreibt sie nieder und streicht alle Buchstabenwiederholungen weg. Übrig bleiben sechsundzwanzig Buchstaben in scheinbar willkürlicher Reihenfolge. Darunter schreibt ihr das Alphabet in der herkömmlichen Abfolge, und dann seht ihr, welcher Buchstabe in dem fraglichen Schreiben welchen ersetzt. Der verschlüsselte Brief wird nicht in einzelne Wörter getrennt, sondern alles ist aneinandergeschrieben, um ein Erraten des Schlüssels zu erschweren. Könnt Ihr mir folgen?«
»Natürlich. Und woher weiß der Empfänger, welches der richtige Bibelvers ist?«
»Es gibt eine Liste mit Bibelstellen, also ›Luk, 3, 15‹ oder ›1 Sam 4, 19‹ und so weiter, die einem Gesandten ausgehändigt wird, ehe er einen neuen Posten antritt. Jedes Mal, wenn er einen verschlüsselten Brief erhält oder versendet, streicht er die oberste Zeile aus seiner Liste. Am anderen Ende der Korrespondenz gibt es eine identische Liste.«
Nick hätte gern noch weitere Einzelheiten erfahren, aber er wusste, die Zeit drängte. »Das werde ich mir merken. Wer weiß, ob es uns nicht eines Tages nützlich sein kann. Also? Werdet Ihr Marys Brief verschlüsseln und dem Kaiser schicken?«
Der Gesandte schüttelte den Kopf. »Es würde nichts nützen. Der Kaiser kann sich eine Invasion Englands nicht leisten, er hat genug mit den Franzosen, dem Papst und den Türken zu tun. In Wahrheit hofft er darauf, dass Henry irgendwann wieder zur Vernunft kommt und das Reich an die einst freundschaftlichen Beziehungen mit England anknüpfen kann. Das ist nicht feige, sondern realistisch, Mylord. Auch die Macht eines Kaisers hat Grenzen. Und auch ein Kaiser muss abwägen, ob und wofür er seine Soldaten in den Krieg schickt.«
»Ja. Das rührt mein Herz. Und Marys gewiss auch, wenn ich ihr die Haltung ihres kaiserlichen Cousins erkläre …« Er gab Chapuys das entschlüsselte Schreiben zurück. »Hier. Es ist wohl besser, wenn ich das nicht mit mir führe.« Einen Moment stand er mit herabbaumelnden Armen da und hatte das Gefühl, sich nicht rühren zu können. Die Entscheidung des Kaisers bedeutete, dass Mary der einzige ehrenvolle Ausweg versperrt blieb. Wie bei allen Heiligen sollte er ihr das sagen? Nachdem sie sich fast zwei Jahre lang mit solcher Würde und Tapferkeit gewehrt hatte? Er nahm sich zusammen und nickte dem kaiserlichen Gesandten kühl zu. »Also dann. Ich muss zurück an die Arbeit. Lebt wohl, Chapuys.«
»Wartet.«
Nick hatte sich schon drei Schritte entfernt, wandte sich aber noch einmal um. »Worauf?«
Der sonst immer so unerschütterliche Chapuys wirkte mit einem Mal zerrissen. Er hatte die schmalen Schultern hochgezogen und die Arme gekreuzt, so als fröre er, und er schien tief in Gedanken versunken. Keine schönen Gedanken, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen.
»Chapuys? Seid Ihr noch von dieser Welt?«, erkundigte Nick sich.
Der Gesandte ließ die Arme sinken und nickte. »Lasst es uns tun.«
»Was?«, fragte Nick verständnislos.
»Holt sie raus. Ich … ich kann das nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, sie hier ihrem Schicksal zu überlassen.«
Nick traute seinen Ohren kaum. »Der Kaiser wird nicht
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