Der dunkle Thron
Bettvorhang zurück und fragte: »Wo wird er beerdigt?«
»Schon passiert. Hier. St. Peter ad Vincula.«
»Kann ich hin?«
»Sicher, mein Junge. Aber krieg keinen Schreck. Wir haben gleich zwei Gräber ausheben lassen. Bruder und Schwester sollen beide dort ruhen.«
Gänzlich unverdient war Raymond im Tower gestrandet. Sein Onkel Norfolk war so damit beschäftigt, mit heiler Haut aus dem Boleyn-Debakel herauszukommen, vermutete Nick, dass er seinen Neffen vorübergehend vergessen hatte. Da Raymond kein Gefangener war, konnte er sich innerhalb der Mauern des Tower frei bewegen, und Nick sah so gut wie nichts von ihm während des nächsten Tages. Raymond hatte den frei gewordenen Platz in dem breiten Bett angenommen, den Nick ihm offeriert hatte, drehte seinem Bruder aber demonstrativ den Rücken zu und sprach so gut wie gar nicht. Und am Freitagmorgen, dem neunzehnten Mai, verschwand er ohne ein Wort der Erklärung.
Nick blieb allein zurück. Er betete nicht für die Königin, denn er wollte Gott nichts vorheucheln. Es machte ihm zu schaffen, dass er auch in der Stunde ihres Todes nur Zorn und Abscheu für Anne Boleyn empfinden konnte und keinen Funken Mitgefühl aufbrachte. Obwohl er gar nicht wollte, musste er an alles denken, was er ihretwegen verloren hatte, an seine weinberankte Burg, seine Pferde, unbeschwerte durchzechte Nächte mit John und Jerome, idiotische Instandsetzungsprojekte mit dem Mann seiner Köchin – und an Polly und seine Kinder. Vielleicht erschien in seiner Erinnerung alles eine Spur besser, als es in Wirklichkeit gewesen war, und er machte sich auch nicht vor, dass er je tiefere Gefühle für Polly gehegt hatte. Doch die Sehnsucht, die ihn beim Gedanken an sie, an Eleanor und den kleinen Francis überkam, öffnete ihm die Augen für eine wenig erbauliche Erkenntnis: Er war ein undankbarer Narr, der den Wert dessen, was ihm geschenkt worden war, erst erkannte, wenn es verloren war.
Der Kanonenschlag ließ ihn leicht zusammenfahren. Unwillig bekreuzigte er sich und murmelte: »Also schön. Ruhe in Frieden, du Miststück. Für dich war es vermutlich auch nicht immer nur Nektar und Ambrosia. Darum musst du meinetwegen nicht zur Hölle fahren …«
Zwei Stunden später kehrte sein Bruder zurück. Er kam ihm blass vor, und zum ersten Mal fiel Nick auf, wie spitz das Gesicht des Jungen in den zwei Wochen geworden war, die er hier verbracht hatte.
»Warst du bei ihrer Beerdigung?«, fragte Nick betont nüchtern.
Raymond nickte und setzte sich zu ihm. »Sie war sehr tapfer, genau wie ihr Bruder«, berichtete er. »Und würdevoll. Sie hat ihre Unschuld beschworen und den König und die Prinzessin Gott empfohlen.«
»War der König dort?«
Raymond schnaubte. »Das glaubst du doch wohl selber nicht …« Dann schlug er sich erschrocken die Hand vor den Mund. »Nein. Er war nicht dort. Auch niemand vom Kronrat. Nur ihre Damen haben sie auf dem letzten Weg begleitet.«
»Und du«, erwiderte Nick lächelnd, obwohl es ihn in Wahrheit erschütterte, wie viel Blut und Tod sein Bruder, der doch noch so furchtbar jung war, in diesen schlimmen Tagen gesehen hatte.
»Ich musste es tun, Nick. Nicht, um es zu sehen, sondern …«
»Um ihr deinen Respekt zu erweisen.«
Raymond sah verblüfft auf. »Woher weißt du das?«
Weil er selbst Scherereien und Schlimmeres riskiert hatte, um Thomas Mores Hinrichtung zu sehen. Doch es war schwierig, diese Dinge zu erklären, und er wollte das Thema auch nicht vertiefen. »War deine Schwester bei ihr? Ich meine Louise?«
»Natürlich. Sie waren einander sehr verbunden.«
Sie hat Schneid, dachte Nick nicht zum ersten Mal. »Das wird die Dinge für sie jetzt auch nicht gerade einfacher machen …«
»Tu nicht so, als würde dir das den Schlaf rauben«, fiel Raymond ihm scharf ins Wort.
Nick hob begütigend die Rechte. »Es steht nicht ganz oben auf der langen Liste der Dinge, die mir derzeit den Schlaf rauben«, räumte er ein und war erleichtert, als er seinen Bruder bei einem verstohlenen Grinsen erwischte.
»Louise hat mir bei der Beerdigung etwas Seltsames erzählt«, berichtete Raymond. »Vorgestern hat Erzbischof Cranmer die Ehe des Königs mit Königin Anne für ungültig erklärt.«
»Was?« Nick traute seinen Ohren kaum. Dann lachte er humorlos. »Damit wäre der Vorwurf des Ehebruchs, für den sechs Menschen gerichtet wurden, ad absurdum geführt, oder?«
»Das scheint niemanden besonders zu bekümmern«, bekannte Raymond und senkte
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