Der dunkle Thron
damit.«
Raymond stand auf. Er war kreidebleich, und er wirkte fahrig, als er an die Truhe trat, wo zwei Zinnkrüge standen. »Es ist … Es ist nichts mehr da, Mylord.«
»Dann besorg mir neuen.«
Raymond rang einen Moment mit sich, dann blickte er ratsuchend zu seinem Bruder. Der nickte ihm verstohlen zu. Er wusste, es war Zeit einzuschreiten. »George, hör auf zu saufen«, riet er. »Sonst wachst du morgen früh mit einem Mordskater auf.«
George Boleyn fing an zu kichern. »Na und? Je mörderischer mein Kopf morgen früh schmerzt, desto besser. Vielleicht werde ich dann ja froh sein, ihn loszuwerden …« Das Kichern klang verdächtig hysterisch.
Nick legte ihm die Hand auf den Arm. »Aber ich nehme an, du willst nicht heulen und winseln und dir aufs Hemd kotzen, wenn es so weit ist, oder?«
»Das ist mir scheißegal!«, brüllte Boleyn ihn an und riss sich los. »Das Einzige, was ich nicht will, ist sterben. Ich … ich will nicht sterben, Nick. Oh Gott …« Sein Gesicht verzerrte sich, er senkte den Kopf und stützte die Stirn auf die Handballen. »Lass mich weitertrinken«, bettelte er dann. Die Stimme drohte zu brechen. »Ich schaff das sonst nicht. Ich …« Er schluchzte. Sofort nahm er sich zusammen und wurde wieder still, saß zusammengesunken auf seinem Stuhl – gramgebeugt.
Nick betrachtete ihn einen Augenblick. Dann stand er auf, ging zur Tür und bedeutete seinem Bruder, ihm zu folgen. »Geh hinunter in die Kapelle und suche einen Priester, Ray. Ich weiß, es ist spät, aber wir brauchen hier geistlichen Beistand.«
»Ist gut«, antwortete der Junge bedrückt.
»Schick ihn her, aber komm nicht mit ihm zurück. Bleib meinethalben in der Kapelle und bete, bis alles vorüber ist, aber komm nicht wieder her.«
»Sag mal, wofür hältst du mich?«, protestierte Raymond entrüstet.
»Für meinen kleinen Bruder, der gefälligst tun wird, was ich sage.«
»Du kannst mir gar nichts vorschreiben«, gab Raymond zurück – gedämpft, aber unüberhörbar rebellisch. Ehe sie weiterstreiten konnten, klopfte er an die Tür.
Es war Jenkins, der draußen Nachtwache schob. Er warf einen Blick auf die stille, zusammengesunkene Gestalt am Tisch und sah dann auf Raymond hinab. »Schlimme Nacht, was?«, fragte er ernst.
Der Junge nickte. »Kann ich gehen und einen Priester holen?«
Jenkins hielt ihm einladend die Tür auf, und Raymond ging hinaus. Der Yeoman Warder schaute fragend zu Nick. »Seid Ihr sicher, dass ich den Jungen wieder reinlassen soll? Scheint, als könnt es hier noch so manchen Sturm geben.« Vielsagend und eine Spur verächtlich ruckte er das Kinn in Boleyns Richtung.
»Ich bin mir keineswegs sicher«, gestand Nick. »Aber mein Bruder würde mir nie verzeihen, wenn ich ihn daran hinderte, seinen Dienst hier bis zum bitteren Ende zu verrichten, und es gibt jetzt schon genug, was er mir nicht verzeihen kann. Also besser, du lässt ihn rein, schätze ich.«
»Wird gemacht, Mylord.«
Nick kehrte an den Tisch zurück.
George hob den Kopf. »Hast du mir was zu trinken besorgt?« Seine Augen waren gerötet, aber trocken.
»Nein. Du hast nur noch acht Stunden Zeit, um dich vorzubereiten. Ich schlage vor, wir fangen auf der Stelle damit an.«
Der Todgeweihte kicherte wieder. »Was stellst du dir denn vor? Soll ich eins der üblichen Gebete runterleiern, die für Gelegenheiten wie diese empfohlen werden? Wie ging das doch gleich … De profundis clamavi ad te, Domine, exaudi vocem meam oder so ähnlich? Meinst du, davon wird mir besser? Ich versteh noch nicht mal, was das heißt, Nick. Und davon abgesehen hätte Gott mir kaum deutlicher zeigen können, dass er mit mir fertig ist, oder?«
Wortlos holte Nick seine englische Bibel aus der Truhe, schlug sie etwa in der Mitte auf und fand die richtige Stelle nach wenigen Augenblicken. Er legte das schwere Buch auf den Tisch und nahm davor Platz. »Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir, höre meine Stimme. Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens. So du Sünden zurechnen wolltest, Herr, wer könnte bestehen? Doch bei dir ist Vergebung. Ich hoffe auf den Herrn, meine Seele harret, und ich warte auf sein Wort. Meine Seele wartet auf den Herrn so wie der Wächter auf den Morgen …«
Er brach ab und sah auf.
George Boleyn hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt wie ein Hund, der eine vertraute Stimme vernimmt, und sein Blick war aufs Fenster gerichtet. »Das ist es, was es heißt?«
»Ja.«
»Und denkst du, es stimmt?
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