Der dunkle Thron
Können wir Vergebung erlangen, wenn wir darum bitten? Ich meine wirkliche, echte Vergebung?«
»Was bleibt uns anderes übrig, als daran zu glauben, George? Wer von uns hätte auch nur die geringste Chance, wenn es nicht so wäre?«
»Aber du zweifelst.«
»Nein«, erwiderte Nick nach einem kleinen Zögern.
»Ich bin schon fast tot, Waringham. Du solltest dich wirklich schämen, mich anzulügen«, schalt Boleyn mit einem Funken Humor.
»Es war keine Lüge«, entgegnete Nick mit mehr Überzeugung. »Ich nehme an, kein Mensch ist völlig frei von Zweifeln, wenn er an einem trostlosen Ort wie diesem hier seinem Ende entgegensieht. Nicht einmal Thomas More war das, den alle für einen Heiligen halten. Aber wenn du das hier liest …« Er tippte auf die aufgeschlagene Bibel.
»Ja? Was dann?«
»Es fällt dir leichter, an die Güte Gottes zu glauben. Es gibt dir Zuversicht. Und … Mut.«
George Boleyn atmete tief durch. »Dann lies weiter. Lies mir irgendetwas Schönes vor, das mich Hoffnung schöpfen lässt. Und mach schnell. Eh ich anfange, nachzudenken und mir vorzustellen, was morgen kommt …«
Der Priester kam erst um sieben, denn das gesamte geistliche Personal des Tower hatte die Nacht bei der Königin verbracht. Ihre Hinrichtung war zwar erst für den übernächsten Tag angesetzt, aber sie war des Beistands offenbar so bedürftig, dass sie ihrem Bruder nicht einen einzigen Seelsorger hatte abtreten können.
Raymond war mit dem Kopf auf den verschränkten Armen am Tisch eingeschlafen. Nick hatte die Nacht damit zugebracht, George vorzulesen und mit ihm zu reden, und nun war er so heiser, dass er nur noch tonlos raspeln konnte. Und George Boleyn war nüchterner und gefasster als je zuvor seit seiner Verhaftung.
»Wollt Ihr beichten, mein Sohn?«, fragte der Priester, ein hagerer, grauhaariger Mann, dem man anmerken konnte, dass er einige Routine in der schwierigen Kunst hatte, einen Menschen auf seinem letzten Weg zu begleiten.
»Ja, Vater«, antwortete Boleyn. »Ich habe keine der Sünden begangen, für die ich heute sterben soll, aber viele andere, fürchte ich.« Sein Lächeln war ein wenig kläglich, und sein Gang verriet, wie weich seine Knie waren, aber er küsste das Kruzifix, welches der Priester ihm reichte, ohne zu zögern, kniete sich ins Stroh und bekreuzigte sich.
»Lass uns draußen warten«, raunte Raymond, und Nick folgte ihm zur Tür.
Es war immer noch Jenkins, der sie in den Vorraum hinausließ und bat: »Stellt Euch dort drüben ans Fenster, Mylord, und geht nicht zur Treppe, tut uns beiden den Gefallen. Wenn Ihr zu fliehen versucht, erwischen Euch die Kameraden unten am Tor, aber wir kämen alle in Teufels Küche.«
»Keine Bange«, gab Nick zurück. »Wenn ich zu fliehen versuche, dann wirst du todsicher nichts davon hören und sehen, ehe es zu spät ist.«
»Na dann, viel Glück«, spöttelte Jenkins.
»Ihr werdet mich also nicht mit ihm auf den Tower Hill gehen lassen?«, erkundigte sich Nick.
Der Yeoman Warder schüttelte bedauernd den Kopf. »Dürfen wir nicht. Befehl von Cromwell, versteht Ihr. Und wir zittern hier alle vor ihm, seit er die Königin gestürzt hat. Auch der Constable. Kein Mann im Tower wagt mehr, Luft zu holen, wenn Cromwell es nicht gestattet. Aber Ihr könnt zur Hinrichtung der Königin, wenn Ihr wollt, die wird nämlich hier innerhalb der Mauern auf dem Tower Green stattfinden.«
»Ich verzichte, vielen Dank.«
»Ein Henker ist eigens aus Calais dafür hergeschafft worden. Ein Spezialist. Er macht es mit dem Schwert. Schnell und sauber. Sie wird gar nichts spüren.«
»Ich habe Mühe, die Königin um dieses Privileg zu beneiden, aber ich nehme an, der Tag wird kommen, da ich genau das tun werde.«
Jenkins wich seinem Blick unbehaglich aus und wies dann mit der Linken zur Tür. »Wie hält er sich? Werden wir ihn hinschleifen müssen?«
Nick schüttelte den Kopf.
»Er kann froh sein, dass er einen Freund wie Euch hatte, der ihn durch die letzte Nacht gebracht hat.«
»Ich bin nicht sein Freund«, stellte Nick klar.
»Doch, Mylord. Das seid Ihr«, widersprach der Yeoman Warder.
Gegen halb acht kamen zwei weitere Wachen die Treppe herauf, und einer von ihnen hämmerte ohne großes Feingefühl an die Tür und sperrte dann auf. Sie traten in den Raum, und Nick folgte mit seinem Bruder.
George Boleyn hatte die Absolution und den Leib des Herrn empfangen und sich die Haare gekämmt. »Ich bin so weit, Gentlemen.«
Die Wachen wollten ihm die
Weitere Kostenlose Bücher