Der dunkle Thron
aus dem Hof reiten. Er wollte ihre Hand nehmen und die Wärme ihrer Finger spüren. Er wollte den Arm um ihre schmale Taille legen und sie an sich pressen. Er wollte diese sinnlichen, geschwungenen Lippen küssen, und er wollte mit Janis auf den Heuboden schleichen und sie ausziehen, und dort oben in der Sommerhitze und umgeben von den süßen Heudüften wollte er sie lieben. Und später, wenn sie ihre Gier aneinander gestillt hatten, wollte er mit ihr reden und ihrer Stimme lauschen, ihre Geheimnisse erfahren und ihre Hände gestikulieren sehen.
Aber er wusste, Janis Finley wollte nichts von alldem. Sie war Nonne. Und er ein verheirateter Mann.
Er nickte ihr unverbindlich zu und führte Orsino aus dem Stall.
Waringham, Juni 1540
»Frauen und Kinder schlafen entlang der linken Wand. Männer auf der anderen Seite. Und mir ist egal, ob ihr verheiratet seid oder nicht – wenn ihr euch vergnügen wollt, müsst ihr raus in den Wald, verstanden!« Madog stand auf der Estrade der Halle des alten Bergfrieds, hatte die Hände in die Seiten gestemmt und hielt seine kleine Ansprache mit tragender Stimme, um das Gemurmel der knapp zwei Dutzend Obdachsuchenden zu übertönen. Er nickte zu dem Geistlichen an seiner Seite. »Vater Simon hier wird gelegentlich die Halle patrouillieren, also macht keine Dummheiten. Wer gegen die eben genannten Regeln verstößt, verbringt den Rest der Nacht im Verlies!« Das war eine Lüge, aber die fürchterliche Drohung hatte sich bewährt. Dabei war es nicht der generelle Sittenverfall, welcher Madog Sorgen bereitete – der ja selber nie ein Kind von Traurigkeit gewesen war –, aber nicht wenige der heimatlosen Wanderer waren Nonnen oder Witwen, und es galt, sie vor unerwünschten Zudringlichkeiten zu beschützen.
Ruth, die Tochter des Schmieds, schenkte Bier aus einem großen Krug in die bereitstehenden Becher, und Matthew, ihr Vater, verteilte das Brot. Viele der Dorfbewohner hatten sich bereitgefunden, bei der Versorgung der Bettler zu helfen.
Nick stand am Eingang der Halle und beobachtete zufrieden den reibungslosen Ablauf. Madog, der ihn längst entdeckt hatte, zwinkerte ihm zu und bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, oben zu warten. Denn wenn die Leute Lord Waringham sahen, würde ein jeder den Wunsch verspüren, ihm persönlich zu danken, und es wäre vorbei mit Ruhe und Ordnung.
Ungesehen wandte Nick sich ab, stieg die Treppe hinauf und betrat sein Gemach, das wie stets um diese Jahreszeit vom Duft der Rosen unten im Garten erfüllt war.
Die Straße zwischen London und Canterbury war immer verkehrsreich gewesen. Kaufleute auf dem Weg nach Dover hatten sie ebenso bevölkert wie Mönche und Pilger, die den Schrein des heiligen Thomas in Canterbury aufsuchen wollten. Wallfahrten waren mittlerweile verboten, und der Schrein des heiligen Thomas war letztes Jahr bei der Aufhebung des Klosters in Canterbury abgebaut worden. Einundzwanzig Karren hatten Cromwells Männer angeblich gebraucht, um all das Gold und die Edelsteine abzutransportieren. Aber die Menschenströme auf den Straßen waren nicht versiegt, im Gegenteil. Die Vertriebenen und Heimatlosen, deren Zahl in London so dramatisch zugenommen hatte, fanden sich ebenso auf den königlichen Straßen, und da es keine Klöster mehr gab, um sie zu versorgen, klopften sie eben an die Tore der Burgen und Gutshäuser. Manche Gutsherren unterhielten eine Horde von Schlägern, um sie wegzujagen, aber Nick und Madog hatten ausgerechnet, dass es preiswerter war, ihnen ein Stück Brot, einen Schluck Bier und ein Strohlager für eine Nacht anzubieten. Außerdem ärgerte es Sumpfhexe, und das empfanden sie als echten Bonus.
»Es werden weniger«, bemerkte Madog, als er über die Schwelle trat. Er klopfte Nick auf die Schulter. »Gut, dich zu sehen, Mann.«
»Gleichfalls. Weniger Bettler, meinst du?«
Madog setzte sich ihm gegenüber und schenkte ihnen beiden einen Becher Wein ein. »Knapp dreihundert im April, ungefähr zweihundertvierzig letzten Monat.«
»Weil es so warm geworden ist«, mutmaßte Nick. »Sie können sich an den Straßenrand legen und den Umweg über Waringham sparen.«
»Und auf das Brot verzichten?« Madog schüttelte den Kopf. »Nie und nimmer. Manche haben eine Woche nichts gegessen, wenn sie herkommen.«
Nick winkte ab. »Ich weiß, ich weiß.« Er kannte diese Geschichten zur Genüge aus der Stadt.
»Jedenfalls waren es im letzten April und Mai doppelt so viele, als die Klöster gerade erst dichtgemacht
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