Der dunkle Thron
Überheblichkeit in seinem Blick wiesen ihn als Höfling aus, aber wenn es wirklich ein Lotterleben war, das er führte, war es ihm zumindest nicht anzusehen. »Du bist noch jung. Du kannst noch alles bei Hofe werden, was du willst«, sagte der Ältere.
»Ja, vielleicht. Mein Onkel Norfolk wünscht, dass ich mich an den Hof des Prinzen bewerbe und an Edwards Seite bin, während er heranwächst.«
»Dein Onkel Norfolk war immer schon ein vorausschauender Mann«, spöttelte Nick. »Prinz Edward ist noch nicht einmal drei Jahre alt.«
»Aber er ist die Zukunft«, entgegnete Raymond.
»So Gott will.«
»Du bist des Öfteren dort, oder? Um Lady Mary zu sehen und deine Familie?«
Nick zog eine schmerzliche Grimasse angesichts der Reihenfolge dieser kleinen Aufzählung, die allzu treffend war. »So oft ich kann«, stimmte er zu.
»Und? Wie ist es dort?«
»Beschaulich. Jedenfalls wenn der junge Robin Dudley nicht gerade mit dem Fußball auf die venezianische Glasfigurensammlung schießt.« Bei der Erinnerung an den kleinen Satansbraten musste Nick unwillkürlich grinsen. »Er würde dir übrigens gefallen. Aber davon abgesehen, wäre Edwards Hof für einen Kerl in deinem Alter sterbenslangweilig. Du trägst dich nicht ernsthaft mit dem Gedanken, dorthin zu wechseln, oder?«
»O doch, Nick. Ziemlich ernsthaft sogar.«
Nick traute seinen Ohren kaum. Sollte Gott ein Wunder gewirkt und Raymond endlich die Augen über seinen angebeteten König geöffnet haben? Doch er beschloss, sich behutsam vorzutasten: »Und … weshalb?«
Raymond legte die Hände auf die Knie und starrte darauf hinab. »Erinnerst du dich an meine Cousine Katherine Howard?«
Nick musste einen Moment überlegen. Er entsann sich, dass der fürchterliche Edmund Howard früher gelegentlich sein Töchterchen mit nach Waringham gebracht hatte. »Vage«, antwortete er. »Ein Elfchen mit wasserblauen Augen und blonden Zöpfen.«
Raymond lächelte kläglich. »Sie ist so alt wie ich, aber immer noch ein Elfchen. Winzig.«
So wie Königin Catalina , fuhr es Nick durch den Kopf.
»Und sie ist die schönste Frau bei Hofe«, fuhr Raymond fort. »Mit Abstand.«
Nick ahnte, worauf das hier hinauslaufen würde. »Du bist in sie verliebt, aber der König will sie heiraten?«
Sein Bruder nickte. Dann wandte er den Kopf und schaute Nick an, und einen Moment sah er so aus, als werde er in Tränen ausbrechen. »Ich halt das nicht aus, Nick. Ich kann nicht daran denken, ohne dass mir schlecht wird. Aber wenn ich es sehen muss …« Er stieß die Luft aus. »Keine Ahnung, was dann passiert.«
Es war eine Weile still. Nick wusste zu genau, wie es in seinem Bruder aussah, um ihm auf die Schulter zu klopfen und ihm zu versichern, dass er schon darüber hinwegkommen werde. Seit er Janis Finley zum ersten Mal gesehen hatte, war ihm klar geworden, welch eine Naturgewalt die Liebe sein konnte – wie eine Flutwelle, die alles niederwalzt, was zuvor wichtig und unumstößlich schien. Noch nie hatte er so etwas empfunden, hatte nicht einmal geahnt, dass es dergleichen geben könnte. Weder seine Schwärmerei für Meg Roper, sein Verlangen nach Polly oder die gelegentlich knisternde Vertrautheit mit Prinzessin Mary waren damit zu vergleichen. Er dachte an Janis, wenn er aufwachte, und ihr galt sein letzter Gedanke, ehe er einschlief. Er war nach Waringham geflohen, um Distanz zwischen sie zu bringen, sich mit Arbeit abzulenken und Trost in seinem Heim zu finden, aber es war alles zwecklos. Er sehnte sich nach ihr, so schlimm, dass es ihm manchmal vorkam, als verschlüge es ihm den Atem. Er wusste, dass er sie nicht haben konnte, aber jede Minute, die er ohne sie verbrachte, kam ihm verschwendet vor …
»Nick, ich weiß, du wirst mich auslachen, aber ich habe das Gefühl, ich kann ohne sie nicht leben«, brach es aus dem so viel Jüngeren hervor.
»Wie du siehst, kann ich an deinem Schmerz nichts Erheiterndes entdecken, Bruder«, gab Nick nüchtern zurück. »Sei so gut und klär mich auf. Was ist passiert? Als ich London vor vier Wochen verlassen habe, war der König mit Anna von Kleve verheiratet.«
»Offiziell ist er das immer noch«, berichtete Raymond. »Aber in der letzten Juniwoche wurde Anna befohlen, sich in den Palast in Richmond zurückzuziehen, und gestern hat die Bischofsversammlung die Ehe für ungültig erklärt. Nächste Woche wird sie annulliert.«
»Das ist die dritte von vieren«, bemerkte Nick. »König Henry ist doch wahrhaftig ein
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