Der dunkle Thron
Unglücksrabe …«
»Er hat schon im Winter ein Auge auf Katherine geworfen, ehe Königin Anna überhaupt herkam, die Ärmste. Sie ist übrigens großartig. Anna, meine ich. Natürlich ist sie wütend über die Farce, in die sie hier hineingezogen wurde, aber besonders unglücklich über die Auflösung ihrer Ehe ist sie nicht.«
»Nein.«
»Du müsstest den König sehen, Nick.« Von Raymonds einstiger Bewunderung war nichts übrig. Abscheu und Geringschätzung sprachen aus seiner Stimme. »Wenn er den Mund aufmacht, dann um zu jammern, zu nörgeln oder um etwas hineinzustopfen. Das Gesicht ist so aufgedunsen, dass die Augen kaum noch zu sehen sind. Und sein Leib … Er ist ein Koloss geworden. Einfach grotesk. Aber niemand soll mir erzählen, das sei die Wassersucht. Er ist fett, so einfach ist das. Und kein Wunder: Er lässt sich ganze Bleche mit Kuchen und riesige Schüsseln voll Pudding vorsetzen. Er frisst wie ein Schwein, immer nur süßes Zeug. Seine Zähne sind ein Albtraum.«
Nick schauderte. Es war das Bild eines Monstrums, das sein Bruder ihm mit seinen Worten malte, und auch wenn Raymonds Blick von Eifersucht getrübt sein mochte, hörte Nick all diese Dinge hier nicht zum ersten Mal. »Was für ein Bräutigam für ein siebzehnjähriges Mädchen …«, murmelte er und seufzte. »Was sagt denn die schöne Lady Katherine zu alldem?«
Raymond kreuzte die Arme und zog die Schultern hoch. »Sie ist verzweifelt. Sie hat unseren Onkel Norfolk auf Knien angefleht, sie auf den Kontinent zu schicken und ihr diese Heirat zu ersparen.«
»Und was hat Onkel Norfolk gesagt?«
»Onkel Norfolk hat seine Pranken sprechen lassen, wie so oft. Ich weiß nicht, was er mit ihr getan hätte, wenn ich nicht zufällig dazugekommen wäre. Er ist …« Raymond unterbrach sich und überlegte. »Weißt du, Nick, ich glaube, insgeheim hasst er Frauen. Zu mir … Na ja, er ist kein besonders geduldiger oder nachsichtiger Mann, aber auf seine Art war er immer gut zu mir und hat sein Bestes für mich getan. Aber Louise hätte heute noch keinen Gemahl, wenn Suffolk ihre Verbindung mit Jerome Dudley nicht betrieben hätte. Auch zu meiner Mutter ist Norfolk nie anders als kühl und herablassend, dabei ist sie doch so stolz auf ihn und immer loyal, ganz gleich, was die Welt über ihn sagt. Und damals, als er Königin Anne verhaftet hat – die doch seine Nichte war, genau wie Katherine –, da war ein Leuchten in seinen Augen. Es konnte einem richtig unheimlich davon werden. Er hat es genossen, verstehst du?«
Nur zu gut, dachte Nick grimmig. Er nickte stumm.
»Was soll ich nur tun?«, fragte Raymond. Mit unterdrückter Wut riss er eine zartrosa Blüte von der Kletterrose, die die Bank überschattete, und zerdrückte sie in der Faust. Als er die Hand öffnete, blutete die Innenfläche von den Dornen, die er sich hineingetrieben hatte, und er wischte die Hand achtlos an seinem Hosenbein ab. »Ich habe überlegt, ob ich sie entführen und mit ihr auf den Kontinent fliehen kann. Aber ich finde keinen Weg. Es gibt einfach zu viele Wachen am Hof.«
»Versprich mir, dass du nichts Unüberlegtes tust, Ray«, bat Nick erschrocken. »Glaub mir, ich kann dich verstehen. Besser, als du ahnst. Aber es gibt nichts , das du tun könntest. Er ist der König, und wenn er sie will, dann bekommt er sie auch. Du weißt, wie ein Fluchtversuch enden würde.«
»Ja, ich weiß.« Es klang bitter.
Nick ließ ein paar Atemzüge verstreichen, ehe er anbot: »Wenn du dich in den Haushalt des Prinzen versetzen lassen willst, werde ich mit Lady Mary reden. Sie wird dich Lord Sidney empfehlen, und dann nimmt er dich sofort. Es würde die Dinge beschleunigen. Du könntest vor der Hochzeit vom Hof verschwinden.«
Raymond nickte unglücklich. »Ich weiß, das wäre das Beste. Was ich allerdings nicht weiß, ist, wie ich es fertigbringen soll, Katherine allein zu lassen mit diesem verfaulenden Fettkloß.«
Wenn du es nicht tust, wird es ein Unglück geben, dachte Nick, aber er sprach es nicht aus. Das war eine Sache, die sein Bruder allein entscheiden musste. »Denk darüber nach und sag mir Bescheid.«
Raymond sah ihn an. »Danke, Nick.«
Sie ließen die Gelegenheit verstreichen, über all die Dinge zu sprechen, die so viele Jahre zwischen ihnen gestanden hatten. Nick war es lieber so, und er nahm an, seinem Bruder erging es nicht anders.
London, Juli 1540
Der Tower Hill glich einem Hexenkessel an diesem diesigen Sommermorgen. Noch zahlreicher als
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