Der dunkle Thron
gewöhnlich hatten die Menschen sich eingefunden, und sie stellten sicher, dass Thomas Cromwell auf seinem letzten Weg das ganze Ausmaß ihres Hasses zu spüren bekam. Er hatte ihren König verhext und dazu gebracht, ihre geliebte Königin Catalina zu verstoßen, glaubten sie. Er hatte mit seiner verfluchten Reform die Welt, die sie kannten, auf den Kopf gestellt und sie bespitzelt und ihnen vorgeschrieben, was sie zu glauben hatten. Er hatte die Armut über Stadt und Land gebracht.
Als er im Juni verhaftet wurde, hatten sie die Eier schon mal vorsorglich beiseitegelegt, mit denen sie ihn heute – sieben Wochen später – bewarfen, und sie hatten Steine gesammelt und Wurfgeschosse aus Papier gefertigt, in welches Hundekot gewickelt war. Die drei Dutzend Wachen, die der Constable des Tower abgestellt hatte, um sicherzugehen, dass der Delinquent das Schafott lebend erreichte, taten ihr Bestes, den tobenden Mob zurückzudrängen, aber vor den hasserfüllten Schmährufen konnten sie Cromwell nicht schützen.
»Fahr zur Hölle und brate dort in Ewigkeit!«
»Deine kleine Anne Boleyn wartet da sicher schon auf dich!«
»Das Beil ist viel zu schade für ein Schwein wie dich!«
»Brennen müsstest du wie all die frommen Männer, die du hast brennen lassen!«
Thomas Cromwell schien nichts von alldem zu hören oder zu spüren. Er hielt den Kopf gesenkt, die Miene untypisch ernst, und betete. Ohne Hilfe stieg er die Stufen zum Richtblock hinauf, und das war der Moment, da er den pickligen, hühnerbrüstigen Jüngling mit dem Beil in Händen entdeckte.
Cromwell blieb wie angenagelt stehen und starrte ihn an, während ein Yeoman Warder ihm die Hände auf den Rücken band und Sir William Kingston ihm mit der ihm eigenen Höflichkeit den Kragen über die Schultern herabzog.
»Vergebt Ihr mir?«, fragte der Junge und fing an zu heulen.
Sprachlos wandte Cromwell den Kopf und sah zu Kingston.
Der Constable des Tower erklärte: »Dieser junge Mann gehört seit einigen Tagen zur Palastwache in Whitehall, Sir. Der Duke of Norfolk hat ihn dort gesehen und persönlich für seine heutige Aufgabe ausgewählt.« Seine Stimme klang neutral, gab lediglich eine Information weiter, aber dann musste der altgediente Constable sich räuspern.
Diejenigen der Zuschauer, die dem Schafott am nächsten standen und ihn gehört hatten, brachen in Gelächter aus und gaben die Neuigkeiten nach hinten weiter. Das Hohngelächter schwoll an, und eine neuerliche Welle von Schmährufen brach los: »Unser weiser Norfolk! Das ist der rechte Lohn für dich, Cromwell!«
Die Wachen hatten um die erhöhte Richtstätte Aufstellung genommen, Schulter an Schulter, Gesichter nach außen. »Das ist kein rechter Lohn«, murmelte Jenkins vor sich hin. »Er hätte ein bisschen Anstand verdient.«
»Du irrst dich«, widersprach Nick unversöhnlich, der ihm genau gegenüberstand. Er war zwei Stunden vor Sonnenaufgang hergekommen, um sich diesen Platz zu sichern.
Der Yeoman Warder schüttelte den Kopf und brummte: »Er ist verurteilt, also muss der Kopf runter, keine Frage, Mylord. Aber er hat dem König zehn Jahre lang die Wünsche von den Augen abgelesen.«
»Ich …« Cromwell schloss einen Moment die Augen, dann nahm er sich zusammen. »Ich vergebe dir«, sagte er zu seinem Henker.
Der Junge hatte sich gefasst. »Ich hab die ganze Nacht geübt, Sir«, versicherte er eifrig. »Mit Kohlköpfen.«
Erwartungsgemäß gab es wieder Gelächter, und auch Nick konnte sich ein bitteres Lächeln nicht verbeißen.
Kingston legte dem Bürschchen kurz die Hand auf den Arm. »Setz deine Maske auf, mein Sohn, und dann tu deine Pflicht.«
Das unschuldige Gesicht verschwand hinter der schaurigen Ledermaske, und Cromwell trat an den Block. »Ich bin hierher gekommen, um zu sterben«, verkündete er mit tragender Stimme, der die jahrelange Übung durch seine Ansprachen vor dem Parlament anzuhören war. »Ich habe keinen Unglauben verbreitet, vielmehr im wahren Glauben gelebt, in Ehrfurcht vor Gott und den heiligen Sakramenten. Ich bitte euch alle, für unseren geliebten Herrn und König zu beten. Möge das Glück seiner Herrschaft euch noch lange begleiten. Ich habe gelebt, um ihm zu dienen. Doch ich beuge mich dem Gesetz und sterbe, getröstet in der Gewissheit der Gnade Gottes.«
Damit kniete er nieder und legte den Kopf auf den Block. Wie Sir Thomas , dachte Nick. Wie George Boleyn . Und die ungezählten anderen Unschuldigen, die Cromwell genau hierher gebracht
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