Der dunkle Thron
offensichtlich war, denn manche der Knaben und Mädchen in der Krippe waren schon alt genug, um nachts auf dumme Gedanken zu kommen. Es gab eine zweite Tür aus dem Dormitorium, durch welche die Jungen im Notfall fliehen oder Hilfe holen konnten, aber sie führte in Master Gerards Kammer.
Janis schwang ihre Glocke noch einmal, hielt dann inne und lauschte mit leicht zur Seite geneigtem Kopf. Es war einer der schönsten Momente ihres Tages, wenn sich hinter den Türen zu beiden Seiten des Flurs das Leben regte. Erst vereinzelt, dann im Chor erklangen helle Kinderstimmen, Füße tapsten über Holzdielen – die Krippe erwachte zum Leben.
Janis ging über den verschneiten Hof in die Küche, wo die Köchin bereits das Feuer aufgeschürt hatte und die Hafergrütze in einem gusseisernen Topf über dem Feuer blubberte.
»Guten Morgen, Martha.«
»Morgen, Kindchen.«
Sie stellten Schalen und Becher auf die beiden langen Tische, und kurz darauf versammelten die Bewohner sich zum Frühstück. Nachdem Master Gerard das Tischgebet gesprochen hatte, setzten alle sich auf ihre Plätze und begannen zu löffeln, aber es war meist still während der Mahlzeiten, denn der einstige Mönch duldete kein eitles Geplauder bei Tisch.
»John und Bill, ihr geht Schnee schippen«, ordnete er an, nachdem die Schalen geleert waren.
»Ja, Master Gerard.« Die beiden Knaben erhoben sich.
»Bill hat keine Schuhe, Bruder Samuel«, protestierte Janis.
Sie sprach immer respektvoll und höflich mit ihm, damit er sich zumindest einbilden konnte, er bestimme, was in der Krippe geschah. Aber sie ergriff das Wort, wenn sie fand, dass er eine falsche Entscheidung traf, und sie weigerte sich, ihn ›Master Gerard‹ zu nennen. Er war Mönch, sie eine Nonne, mithin waren sie vom selben Stand, Teil derselben Gemeinschaft, und so war es nichts weiter als angemessen, sich mit ›Bruder‹ und ›Schwester‹ anzusprechen. Aber sie wusste sehr wohl: Samuel Gerard war der Auffassung, sie sei die schlimmste Prüfung, die der Herr ihm je geschickt hatte.
In diesem Fall musste er allerdings eingestehen, dass sie recht hatte. »Dann gehst du mit John, Richard.«
Der fünfzehnjährige Junge warf dem Lehrer einen finsteren Blick zu, nickte jedoch und stand auf.
Samuel Gerard hielt ihn am Ärmel zurück. »Hast du nicht vielleicht etwas vergessen?«, fragte er, der Tonfall scharf.
Richard befreite seinen Ärmel mit einem kleinen Ruck. »Ja, Master Gerard. Ich geh gern Schnee schippen, Master Gerard. Gelobt sei Jesus Christus, Master Gerard.« Die dunklen Augen funkelten, und seine Miene war feindselig. »Reicht das?«
Der Lehrer betrachtete ihn noch einen Moment. Dann sagte er scheinbar gleichmütig: »Glück gehabt, John. Richard wird den Schnee im Hof heute Morgen allein beiseite räumen.« Und an den rebellischen Zögling gewandt fügte er hinzu: »Du wirst für den Rest der Woche vom Unterricht ausgeschlossen. Wenn du mit dem Schnee fertig bist, hackst du das Holz, das gestern gekommen ist. Und nach dem Essen kommst du zu mir, und wir unterhalten uns über den angemessenen Respekt eines elternlosen Bettlers wie dir vor einem Kirchenmann wie mir und über die Folgen, die es hat, wenn es an diesem Respekt mangelt.«
Richard ließ ihn einfach stehen und folgte den anderen Kindern hinaus in den Hof.
Master Gerard nahm seinen Mantel von der Bank und warf ihn sich über die Schultern. »Ich will nichts hören«, grollte er in Janis’ Richtung.
»Nein, ich weiß«, gab sie zurück.
»Er ist ein undankbarer, verstockter Flegel und ein Ketzer obendrein«, ereiferte er sich, als hätte sie ihm Vorwürfe gemacht. »Für seinesgleichen sollte kein Platz in einem Haus wie diesem sein.«
»Master Durham und Doktor Harrison suchen ja schon eine Lehrstelle für ihn«, erwiderte sie beschwichtigend. »Aber es ist eben nicht einfach. Weil er so ein Hitzkopf ist, will Master Durham ihm das Lehrgeld nicht bezahlen, und bislang will ihn auch niemand haben.«
»Das wundert mich nicht«, sagte der Mönch.
»Bruder, habt Geduld mit Richard. Wenn er wegläuft, wird es ein schlimmes Ende mit ihm nehmen. Ich weiß, dass Ihr voller Barmherzigkeit seid, ich sehe das jeden Tag.« Das war nicht gelogen. Sie fand ihn oft unnötig hart, aber es war nicht zu übersehen, dass das Wohl der Kinder ihm am Herzen lag, und er war ein hervorragender Lehrer. »Darum bitte ich Euch, schlagt ihn nicht wieder.«
»Es ist die einzige Sprache, die er versteht«, entgegnete er unversöhnlich
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